Am 18. Januar 1996 sterben zehn Menschen bei einem Brandanschlag im schleswig-holsteinischen Lübeck. Über eine Nacht, die weiterhin drängende Fragen aufwirft.
Schwerste Brandstiftung
Die hektischen Notrufe der Bewohner:innen gingen gegen 3:40 Uhr bei der Lübecker Feuerwehr ein. Aufzeichnungen der Stimmen offenbaren pure Verzweiflung und Todesangst. Kurz danach steht die gesamte Hafenstraße 52, das damalige Lübecker Asylbewerber:innenheim, in lodernden Flammen. Die Einsatzkräfte sind schnell vor Ort und beginnen mit Rettungsversuchen. Dennoch: Einige der Menschen waren bereits gezwungen aus dem Fenster zu springen, andere erstickten. 48 Menschen hielten sich in dieser Nacht im Heim auf. Eine Anruferin war die aus dem Bürgerkriegsland Kongo geflüchtete Françoise Makodila. Zwar konnte sie den Notruf noch absetzen, verstarb aber kurz danach mit ihren Kindern. Am Ende dieser Nacht sind zehn Menschen tot, darunter sieben Kinder. 38 Geflüchtete wurden teils schwer verletzt. Damit bildet Lübeck, bezogen auf die Todesopfer, die traurige Spitze einer ganzen Reihe von schwersten Brandanschlägen der 1990er Jahre. Rostock, Mölln oder Solingen sind seitdem mehr als Städte. Sie sind Inbegriff rechter Gewaltexzesse gegen Migrant:innen im Nachgang der Wendezeit. Viele sehen sie als mittelbares Resultat einer aufgeheizten Debatte um den „Asylkompromiss“.
Offene Fragen in Lübeck
Sofort nach dem Brand kamen Fragen bezüglich der Tat auf. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass es Brandstiftung gewesen sein muss. Kein tragischer Unfall also, sondern ein gezielter Angriff. War es ein rassistischer Anschlag? Wer legte das Feuer? Vier junge Männer aus Grevesmühlen wurden am Tatort gesehen. Sie wiesen eindeutige Verbindungen zur rechten Szene und frische Sengspuren im Gesicht auf. Einer hatte den Spitznamen „Klein-Adolf“. Zum Hintergrund: Schon im direkten Vorlauf dieser Nacht wurde Lübeck Schauplatz einiger Anschläge. Im März 1994 und Mai 1995 wird die Synagoge Ziel von Brandattacken. Im Juni 1995 explodiert eine Briefbombe in der Geschäftsstelle der SPD und verletzt den Fraktionsgeschäftsführer schwer. Doch bei den Ermittlungen zur Brandnacht verlagert sich der Fokus der Staatsanwaltschaft jedoch schnell auf einen Bewohner der Unterkunft. Er habe einem Sanitäter noch in der Brandnacht gestanden, das Feuer im eigenen Haus gelegt zu haben.
Einen Brand im eigenen Haus stiften und danach wieder ins Bett legen?
Als Motiv wurden „ethnische Streitigkeiten“ ausgemacht. Der damals 21-jährige Bewohner Safwan Eid kommt in Untersuchungshaft, die Skinheads frei. Laut Panorama-Recherchen verwickelt sich der Sanitäter in grobe Widersprüche, Verhörprotokolle des Beschuldigten werden fehlerhaft und tendenziös vom BKA übersetzt. Damit nicht genug: Asservate, die die Skinheads aus Grevesmühlen belasten, verschwinden. Der damalige Skinhead Maik W. gesteht die Tat Jahre später und widerruft das Geständnis, nachdem laut Aussage eines JVA-Leiters vermittelnde Beamte Druck auf ihn ausübten.
Doppelt zum Opfer gemacht
Die Tat ist auch 25 Jahre danach nicht aufgeklärt. Der Beschuldigte, Safwan Eid, stand zweimal vor Gericht. Zweimal wurde er freigesprochen. Die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die rechte Clique wurde 2012 abgelehnt. In der NDR-Dokumentation betonen Zeitzeugen von Polizei und Justiz, dass sie die Pannen von damals bedauern. Aber Fehler könnten nun mal passieren. Wer für die Tat verantwortlich ist, bleibt unklar. Die offene Wunde der Opfer hat somit schwere Chancen zu heilen. Im Gegenteil: Der Umgang mit den Opfern in Lübeck ist ein Beispiel dafür, dass Betroffene rechter Gewalt oft mit Zweifeln an ihrer Glaubwürdigkeit kämpfen müssen. Opfer müssen nicht nur die Tat an sich verarbeiten. Sondern sie kämpfen auch mit zugewiesenen Rollen, Gleichgültigkeit und Vorurteilen.
Kritik statt Empathie
Statt breiter Solidarität, spiegelt ein Blick auf die Diskussionen von damals ein verstörendes Bild des Miteinanders wider. Ein Beispiel: In der Brandnacht eilte der Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller zum Tatort. Er kannte einige Bewohner des Hauses. Bouteiller erinnert sich, wie er Arm in Arm mit einer Bewohnerin weinte. Ein Kameramann hielt dieses Bild fest, das durch die Medien ging. Daraufhin wurde Bouteiller für seine Geste kritisiert. Darf ein Politiker hier Gefühle zeigen? Nachdem der Bürgermeister Personaldokumente für Überlebende aus dem Haus ausstellen lässt, bekommt er eine Disziplinarstrafe.
Gegen das Vergessen – für späte Gerechtigkeit in Lübeck
Ein Jahr nach dem Brand wurde die Ruine des völlig ausgebrannten Heims abgerissen. Heute ist am gleichen Ort ein Parkplatz. Auf der anderen Straßenseite wurde ein Gedenkstein angebracht – seit 2015 gibt es auch eine Bronzetafel. Der Kampf mit den persönlichen Folgen der Brandnacht geht für viele Überlebenden weiter. Sie kämpfen 25 Jahre danach gegen das Vergessen, für ein aktives Gedenken und Gerechtigkeit. Das Ziel vieler Lübecker:innen in 2021: Eine Petition für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.