Anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes am 23. Mai, veröffentlichen wir in diesem Monat die Serie MIGRATION IN DIE DEMOKRATIE. Wir stellen u.a. Menschen vor, die bewusst in das demokratische System Deutschlands eiwanderten bzw. aus Deutschland wichtige Demokratisierungsprozesse in ihren Herkunftsländern unterstützen.
Als am 1. Januar 2000 in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft trat, war dies eine gesetzliche Neudefinition davon, wer Deutsche:r ist und wer nicht. Bis dahin waren vereinfacht ausgedrückt diejenigen deutsch, die deutsche Vorfahren hatten. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht erhielten nun auch in Deutschland geborene Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft, deren Eltern sie nicht besaßen. Das sogenannte Geburtsortprinzip ergänzte damit das bis dahin ausschließlich geltende Abstammungsprinzip.
Partizipation nicht für alle
Jede Gemeinschaft muss festlegen, wer Teil von ihr ist und wer nicht. Bei demokratischen Gesellschaften ist dies insbesondere mit Blick auf die inhärente politische Partizipation wichtig. Nicht alle in Deutschland lebenden Menschen hatten und haben jedoch die gleichen Möglichkeiten der politischen Partizipation. So gilt sie für viele Menschen mit Migrationsgeschichte nur mit Einschränkungen.
Grundsätzliche lassen sich zwei verschiedene Arten von politischer Teilhabe unterscheiden: Zur informellen politischen Partizipation gehören Proteste, Demonstrationen, Bürgerinitiativen, ehrenamtliche Tätigkeiten in (politischen) Vereinen, Verbänden sowie Interessenvertretungen und bürgerschaftliches Engagement. Diese Arten der Partizipation stehen zunächst einmal allen Menschen offen. Mit der formalen politischen Partizipation wiederum ist vor allem das aktive und passive Wahlrecht gemeint. Sie ist durch entsprechende Gesetze geregelt und meist an die Staatsangehörigkeit gebunden.
Zuhause in der EU
In der Bundesrepublik Deutschland hat und hatte die überwiegende Mehrheit der Menschen mit Migrationsgeschichte die Staatsbürgerschaft allerdings jahrzehntelang nicht. Welche Wahlrechte sie dennoch haben, hängt entscheidend vom Herkunftsland ab. So dürfen Migrant:innen aus Ländern der Europäischen Union seit 1992 (Vertrag von Maastricht) das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene ausüben.
Der Lissabon-Vertrag (2009) führte dann die Unionsbürgerschaft ein, welche ihnen die Teilnahme an Europawahlen in demjenigen EU-Land erlaubte, in dem sie ihren Wohnsitz haben. EU-Bürger:innen können in der Bundesrepublik also auf kommunaler und europäischer Ebene an Wahlen partizipieren, auch ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Für migrantische Menschen aus Drittstaaten, also aus Nicht-EU-Ländern, gilt dies nicht.
Weiterhin defizitär
Gremien, für die alle Menschen mit Migrationsgeschichte wahlberechtigt sind, sind die Ausländer- und Integrations(bei)räte. Erstere wurden im Sinne der Integration Mitte der 1980er Jahre eingerichtet und haben auf kommunaler Ebene eine beratende Funktion bei bestimmten Themen (interkultureller Austausch, Mehrsprachigkeit, Diskriminierung etc.), Entscheidungsbefugnisse allerdings nicht.
So bleiben Menschen mit Migrationsgeschichte auch hier von verbindlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, wenn die Kommunen ihre Ratschläge nicht ernstnehmen. Daraus resultieren eine geringe Akzeptanz in migrantischen Communities, eine niedrige Wahlbeteiligung (unter 20 Prozent) und letztendlich wenig Legitimation der Ausländerbeiräte.
Um dem entgegenzuwirken, entstanden in jüngster Vergangenheit aus den Ausländerbeiräten heraus die Integrations(bei)räte. Sie haben tatsächlich Entscheidungskompetenz und sind stärker in kommunale Strukturen eingebunden. Sie werden teilweise gewählt, teilweise von den im Rat vertretenen Fraktionen entsandt. Das Defizit an politischer Partizipation in Form der Teilnahme an regulären Wahlen auf kommunaler, Landes- sowie Bundesebene gleichen sie allerdings nicht aus.
Der Anteil steigt, aber nicht automatisch
Die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik war über Jahrzehnte hinweg geprägt von fehlenden Wahlrechten für einen signifikanten Teil der Bevölkerung, der nicht über die Staatsbürgerschaft verfügte. In den 1980er Jahren wurde die Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auch auf Menschen aus Drittstaaten tatsächlich diskutiert, aber aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1990 verworfen.
Auch die Beteiligung von Deutschen mit Migrationsgeschichte ist ein vergleichbar junges Phänomen. Erst in der jüngeren Vergangenheit nahm durch Reformen wie das seit 1. Januar 2000 geltende neue Staatsangehörigkeitsrecht und Entwicklungen wie die Aussiedlerbewegungen der 1990er Jahre die Zahl der wahlberechtigten Menschen mit Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik stetig zu.
Dies schlug sich in der Folge auch in der politischen Repräsentation innerhalb der Parlamente nieder. Als erste Abgeordnete mit beispielsweise türkischer Migrationsgeschichte zogen 1994 Leyla Onur (SPD) und Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) in den Bundestag ein. Seither ist der Anteil der Parlamentarier:innen mit Migrationsgeschichte im Deutschen Bundestag stetig gestiegen.
Dies ist allerdings keine automatische Entwicklung, die sowieso früher oder später stattgefunden hätte. Hier mussten sich Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Realität anpassen und ebenso brauchte es Menschen, die diesbezüglich aktiv wurden.
Titelbild: Bild von Michael Schwarzenberger auf Pixabay