Zwei Freunde, ein Podcast: B.O.M. – Berlin.Ost.Migrantisch. Lebenswege, die auf den ersten Blick erstmal nur oberflächlich etwas miteinander zu tun haben. Thema Migration, Thema DDR, Thema Ost(deutsch). Alles schon ein bisschen dagewesen.
Doch die Biografien von Özgür Özvatan und Daniel Kubiak weisen Schnittpunkte auf, die besonders sind. Und beim Zuhören entstehen interessante Fragen, auf die es zwar noch keine Antwort gibt, die aber nach Hören dieses Podcasts wie eine Chance stehenbleiben.
In der DDR geboren, in der Türkei geboren. Finde den gemeinsamen Nenner!
„Wie können wir ein „Berlin.ost.migrantisch“ weiterdenken?“ lautet vielleicht der grundlegende Gedanke dieses Podcasts. Inwieweit wirkt eine ostdeutsche Familiensozialisation nach – bei (Ex-) Ostdeutschen, bei Migranten?
Wann ist ein Migrant ein Migrant? Denn wenngleich die DDR wie die Türkei ein anderes Land war, und Kubiak, in der DDR geboren, einen anderen Pass besaß, wird Daniel Kubiak im Gegensatz zu Özgür Özvatan nie als jemand mit einem migrantischen Hintergrund gesehen.
Daniel Kubiak und Özgür Özvatan haben die ersten sechs Podcastfolgen von B.O.M. – Berlin.Ost.Migrantisch innerhalb von sechs Stunden am Stück aufgenommen. Sie sitzen quasi mit uns an einem Tisch, erzählen uns ihre Geschichte, nehmen uns mit auf eine kleine Reise durch ihr Leben. Es geht um Gewichtiges, wobei der Ton nie belehrend oder gar vorwurfsvoll oder anklagend bitter wird. Die beiden Podcaster wollen, dass wir Spaß haben und Lust bekommen, neue Perspektiven zu entwickeln. Daher ist das auch ein Service-Podcast, sagen sie. Ein Service-Podcast für bestimmte Perspektiven.
FUSSBALL, FACHSCHAFT, UNI-ALLTAG
Es geht um role models. Fußballtrainer, Lehrer, Dozenten, die den beiden jungen Männern Rückhalt bieten und ihnen helfen, entscheidende Weichen für sich zu stellen. Der junge Daniel Kubiak jobbt als Pizzabote in Pankow, verdient sein Geld auf dem Fußballfeld. Kubiak wird eine Karriere im Pizzaunternehmen angeboten, doch er möchte lieber Journalist werden. Bei Özgür Özvatan ist es sein Trainer, der ihn sich zur Brust nimmt und ihm rät, sich genau zu überlegen, was er mit seinem Leben anfangen will. Der Weg führt ans Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Ostdeutscher Hintergrund, nicht-akademisches Elternhaus – wie findet man sich in ein universitäres System ein, in einer Zeit, als Integration kein Thema und das Lehrpersonal vornehmlich westlich und weiß war?
KULTURELLE EINHEIT, ZUSCHREIBUNGEN, „OSTDEUTSCHSEIN“
Daniel Kubiak und Özgür Özvatan empfinden ihr „Ostdeutschtum“, das ihnen, da im Osten geboren und aufgewachsen, von der Gesellschaft ungefragt zugeschrieben wird, nicht als schlimm. „Im Gegenteil, es ist ein Riesenplus!“. Stur auf einer gemeinsamen kulturellen Einheit zu beharren, sei nicht zielführend, denn Deutschland und insbesondere Berlin stünden für eine plurale Gesellschaft. „Die gleichen kulturellen Chancen zu haben, muss nicht zwangsweise eine gemeinsame kulturelle Einheit bedeuten“, so Kubiak. In Zukunft werde nicht mehr der migrantisch-ost-west-deutsche Hintergrund eine Rolle spielen, sondern der deutsche.
Zuschreibungen über das „Migrantischsein“, die Özvatan und Kubiak beide erfahren haben, und welche auch ihre Kinder noch erleben müssen aufhören. Es soll eine eigene aktive Entscheidung sein dürfen, ob man seine Identität automatisch mit Herkunftsland und Wurzeln verbindet. Denn jene Zuschreibungen haben das Potential, auch die Kinder und Kindeskinder von Özvatan und Kubiak noch zu Ostdeutschen werden zu lassen, unabhängig davon, ob diese sich damit identifizieren können bzw. wollen.
Fair wäre, dass die Kinder sich selbst auf die Spuren ihres „Ostdeutschseins“ begeben dürfen, wenn sie das wünschen und selbst wollen.
PARADIGMENWECHSEL
„Ich scheiß drauf, was andere denken könnten. Wenn ich Bock hab, drei Wochen über Ausländer zu reden, dann mach ich das einfach. (…) Ich sag halt mal Ausländer in der Selbstbeschreibung (…), dann sag ich halt mal, dass ich deutsch bin, und drei Stunden später sag ich Kanake. (…) Und am Ende des Tages heißt es nicht, dass ich entweder nur das eine verwenden darf oder nur das andere bin und verwenden darf, es ist einfach scheißegal, was ich in der Situation sage – es gibt einfach nicht mehr diesen ‚Ich muss mich beweisen‘-Druck. Ich bin ganz selbstverständlich hier. Und ich hab gar keine Lust (…), ich hab gar kein Bedürfnis mehr, mich zu begründen, mein Dasein zu verargumentieren.“
Özgür Özvatan
Özgür Özvatan stellt im Podcast die Frage, ob Vorfälle wie z.B. rechtsextreme Angriffe in dem Moment gesellschaftlich diskutierbar(er) werden, in dem sie auf ost- statt auf westdeutschem Boden stattfinden. „Hanau ist nicht Ostdeutschland“.
In Ostdeutschland wird Rassismus als ostdeutsches Phänomen besprochen, so Kubiak. Und wenngleich der entstehende Diskurs interessante Anknüpfungspunkte bietet, hinterlässt er doch eine gewisse Erklärungslücke.
OVERPERFORMANCE, DOKTORTITEL
„Kannst du eigentlich Demokratie? Denn, da wo du herkommst, gab´s das ja nicht.“ Was macht es mit einem Menschen, der unter dem permanenten Druck aufwächst, sich als Migrant beweisen zu müssen?
Özvatan und Kubiak beobachten, dass die Diskussion um „Ostdeutschtum“ kein Phänomen der Betroffenen bzw. ihrer Nachkommen ist, noch sich auf Ostdeutschland oder Berlin als ehemals geteilte Stadt beschränkt. Vielmals fände diese Diskussion in der Mitte der Gesellschaft – vor allem der linksprogressiven – statt.
Gerade in einer sich selbst als linksprogressives Bürgertum verstehenden Gruppe mangele es an der Bereitschaft, Fehler und Fehleinschätzungen zuzugeben. Für die migrantisch geprägte Gesellschaft bedeute dieses Verhalten eine Enttäuschung.
So entstünden unter anderem Phänomene wie „Overperformance“ bei Migranten (und Ostdeutschen?), die die beiden Podcaster als Antwort auf eine antimigrantische, eine antiostdeutsche Realität deuten. Hierbei gehe es um eine Zurückeroberung von Räumen, welche Migranten und Ostdeutschen über Generationen hin verwehrt worden sind. Dabei sei nicht das Ziel, komplett neuen Boden zu betreten, der Erste zu sein. „Es geht mir nicht darum, Pionier zu sein, es geht mir einfach darum, da zu sein, mit anderen gemeinsam, um dann etwas zu bewegen“, erklärt Özvatan.
Daniel Kubiak und Özgür Özvatan haben beide promoviert. Der Doktortitel vermittelt Stolz, den die beiden als positive Message empfinden. „In bestimmten Räumen ist mein Doktortitel eine Power message“, so Özvatan. Situationsabhängig sei es sehr wichtig, den Titel offensiv zu tragen, mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit aufzutreten wie einst die westdeutschen Professoren.
ALLIANZEN, REFLEKTIONSARBEIT
„Wir setzen die Biografien bzw. Erfahrungen zwischen Ostdeutschen und Migranten nicht gleich. Aber dass die ostdeutsche Bevölkerung für die migrantische Gesellschaft eine Alliierte sein kann, ist sehr wertvoll“, erklärt Daniel Kubiak für beide [Kubiak nimmt hier Bezug auf die Studie von Naika Foroutan und anderen: „Ost-Migrantische Analogien I“ 2019]. Es gäbe Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gruppen, aufgrund derer strategische Interessensgemeinschaften gebildet werden könnten. „Wollen wir versuchen, aus Vergleichen Informationen zu ziehen, die für unsere Gesellschaft relevant sind – oder nicht? Wir denken, dass das sinnvoll ist, und wir sehen den Mehrwert.“
Man kann Phänomenbereiche nach Ost-West unterscheiden und dann Ursachenforschung betreiben. Aber erstens kann Forschung Rassismus relativieren, und zweitens ist die Frage nach dem Wozu vielleicht sogar wichtiger.
Beim Hören des Podcasts wird deutlich, dass diese Reflektionsarbeit bei Ostdeutschen und Migranten aus einer Art Notwendigkeit hervorgeht, die automatisch mit der eigenen Biographie kommt. Anders als bei einer in Westdeutschland aufgewachsenen Person, welche das „Privileg“ hat, eine solche Positionierung nicht wahrnehmen zu müssen und ergo schlichtweg keinen Impuls zu derartiger Selbstreflektion verspürt.
Derartige Perspektiven stehen, so Kubiak und Özvatan, für eine lernende Gesellschaft und für die Bereitschaft, sich selbst und den eigenen Beitrag zur Gesellschaft zu reflektieren.
WELCHE ATMOSPHÄRE WOLLEN WIR SCHAFFEN?
Der Podcast von Özvatan und Kubiak gibt einem ein Gefühl von „es ist okay“. Weil nicht angeklagt, sondern berichtet wird. Persönlich, aus erster Hand, heute. Es entsteht ein neues Verständnis, weil Zusammenhänge (beweisen müssen – Overperformance) erklärt und Perspektiven begründet werden. Wir hören Gedanken, die nicht in ein einer reißerischen Überschrift oder einer hitzigen Debatte enden, sondern einen wachen Blick auf die Zukunft richten. Eine Zukunft, die wir gemeinsam besser gestalten können. (gemeinsam gestalten?????)
Interessanterweise nutzen die beiden Podcaster den Begriff „weiße Privilegen“ (white privilege) kein einziges Mal. Vielleicht trägt auch dies dazu bei, dass der gesamte Podcast kein einziges Mal auch nur annähernd vorwurfsvoll oder bitter wirkt.
B.O.M. – Berlin.Ost.Migrantisch. Der Podcast aus Berlin von Özgür Özvatan und Daniel Kubiak. Aktuell sind sieben Folgen online.
Titelbild: Screenshot der Internetseite des Podcasts B.O.M. – Berlin.Ost.Migrantisch.