Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden. Heute berichtet Elvira B. von ihrem “Mitbringsel” aus Usbekistan.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das “Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Eine Plowschale aus Usbekistan – Elvira B. erinnert sich

Elvira B.s Heimat Usbekistan hat sich in ihren Augen verändert – ihre Plowschale erinnert sie an alte Zeiten. Foto: Ansgar Wilkendorf

Dieses Geschirrservice, zu dem ursprünglich auch eine Teekanne gehörte, ist ein Abschiedsgeschenk meiner ehemaligen Arbeitskollegen, als Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Zeit.

In der großen Schale wird Plow serviert, ein traditionelles usbekisches Gericht, das zu jedem größeren Fest – ob Hochzeit oder jüdische Beschneidung – zubereitet wird.

In meiner Heimatstadt Chirchiq, einer Industriestadt, die am gleichnamigen Fluss gelegen ist, wurden zu solch einem Anlass stets mehrere Tische auf der Straße aufgestellt, damit das gesamte Viertel im Freien beisammen sitzen und miteinander essen konnte.

Es wird in riesigen Kesseln aus den vier Hauptzutaten Lammfleisch, Reis, Zwiebeln und Möhren zubereitet. Auch auf den Basaren sind überall solch große Kessel mit gekochtem Plow zu finden.

Ein Abschiedsgeschenk aus Usbekistan

Bevor ich nach Deutschland kam, arbeitete ich in Chirchiq in einem größeren Werk als Gymnastiktrainerin. In Usbekistan hat jedes größere Werk sein eigenes Rehabilitationszentrum. Dort habe ich gemeinsam mit meinen Kollegen für jede Berufsgruppe spezifische gymnastische Übungen angeboten.

Einen Tag vor meiner Abreise lud ich noch einmal alle Kollegen zu mir ein, um mit ihnen zusammen zu essen. Natürlich gab es zu diesem Anlass Plow. Damals machten sie mir dieses Geschenk. So schön es war, sie alle zu sehen, so traurig fühlte ich mich, da ich von ihnen fortgehen und sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde.

Das Abschiednehmen fiel mir schwer, obgleich ich mich darauf gefreut habe, nach Deutschland auszuwandern – zurück zu den Wurzeln meiner Familie. Doch alles, was ich mir über Jahre in meiner Heimatstadt aufgebaut hatte – ich war damals 22 Jahre alt –, war von heute auf morgen weg. In Deutschland dagegen erwartete mich vorerst Nichts.

Zwar bin ich nicht allein gekommen, meine Familie folgte nach und nach, bis schließlich all meine Geschwister und auch meine Eltern hier in Deutschland lebten, dennoch fiel es mir gerade in der Anfangszeit schwer, mein Geschirrservice auch nur anzusehen.

Immer wieder kamen dabei die Erinnerungen an den Abschied hoch. Diese Gedanken überkommen mich noch heute ab und an, doch bin ich mittlerweile eine richtige Wolfsburgerin geworden, Wolfsburg ist nun meine neue Heimatstadt. 

„Usbekistan ist für mich nicht mehr Heimat“

Nach den dreißig Jahren, die ich nun schon in Deutschland lebe, ist Usbekistan für mich nicht mehr Heimat. Als ich vor einiger Zeit Chirchiq noch einmal besucht habe, war ich enttäuscht, diese Leere vorzufinden. Das Werk, in dem ich damals arbeitete, war bei meinem Besuch mitsamt all seiner Hallen schon zur Hälfte an türkische Käufer übergegangen.

Auch die Menschen sind größtenteils gegangen: Heute wohnen nur noch wenige der einstigen Einwohner in Chirchiq, die meisten haben die Stadt längst verlassen: Die Krimtartaren gingen auf die Krim, die Griechen nach Griechenland. Daher ist Chirchiq heute nahezu leer; lediglich die Menschen, die nirgendwo sonst Verwandte haben, leben heute noch dort. Doch das war nicht immer so.

Einst eine bunte Mischung aus Nationalitäten

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als in dem 1935 gegründeten Chirchiq, das ungefähr 30 Kilometer von der Hauptstadt Taschkent entfernt liegt, ein sogenanntes Besserungsarbeitslager entstand, sah das noch ganz anders aus. Damals wurde die neue Stadt den „Verbannten“ ein Zuhause. Es lebten dort nicht nur Deutsche, sondern auch Tartaren von der Krim, Griechen, Koreaner – die unterschiedlichsten Nationalitäten.

Auch meine Eltern gingen dorthin. Sie waren im Kindesalter 1945 zusammen mit ihren Eltern von Brandenburg aus nach Sibirien deportiert worden. Erst mit dem Tode Stalins im Jahre 1953 durften sie Sibirien verlassen, dabei stets in der Hoffnung, irgendwann einmal nach Deutschland zurückkehren zu können.

Einige der Deportierten zog es nach Litauen oder Lettland, meine Eltern gingen nach Usbekistan in Mittelasien und dort in die Stadt Chirchiq, wo ich 1968 geboren wurde. Dort wuchs ich in einem Viertel auf, in dem fast ausschließlich Muslime lebten, doch führte dies zu keinem Zeitpunkt zu Spannungen: Glaube wie Herkunft waren egal, alle kamen gut miteinander aus.

In diesem bunten Gemisch an Nationalitäten hatte ich viele Freundinnen, manche kamen aus Kasachstan, andere waren Krimtartarinnen oder Usbekinnen. Auch in der Schule sah das nicht anders aus, obwohl es sich bei meiner um eine russische Grundschule handelte.

Für mich stellte die Sprache allerdings zunächst eine Hürde dar: Da ich nie einen usbekischen Kindergarten besucht hatte, sondern von meiner deutschen Großmutter betreut worden bin, sprach ich, als ich in die Grundschule kam, kein einziges Wort Russisch. Ich beherrschte lediglich das Schwäbisch meiner Großeltern, die aus Baden-Württemberg stammte.

Der Geschmack der Erinnerungen

Wenn heute einer meiner Bekannten nach Asien fährt, lasse ich mir stets etwas mitbringen, meist Koriander, der mir besonders wichtig ist. Natürlich gibt es ihn auch hier in Deutschland, doch hat er nicht denselben Geschmack wie der usbekische. Vielleicht liegt es an der Sonne oder an der Erde, die doch hier eine ganz andere ist.

Neben Koriander ist auch Baumwollsamenöl eine wichtige Zutat für den Plow, doch gibt es das hier nirgendwo zu kaufen. Es hat einen ganz eigenen Geruch, der mit dem von Sonnenblumenöl nicht zu vergleichen ist.

Koche ich meinen Plow mit Baumwollsamenöl, weckt schon allein der Geruch Erinnerungen: So mussten wir ab der achten Klasse für zwei Monate die Schule verlassen, um auf den Baumwollfeldern mitzuhelfen. Auch dort gab es immer Plow. Noch heute habe ich den Geruch in der Nase, wenn wir abends von den Feldern kamen und der Plow schon von Weitem zu riechen war.

All diese Gerüche breiteten sich wunderbar in der Herbstluft aus. Die starke Verbindung zwischen Usbekistan und der Baumwolle ist auch auf meinem Geschirrservice verewigt, auf dem einzelne Baumwollornamente abgebildet sind. Die großen Baumwollplantagen sind typisch für Mittelasien und Usbekistan, weshalb auf fast jedem usbekischen Geschirr traditionelle Baumwollelemente zu finden sind.

Die Verfasser

Der vorliegende Geschichte zum Land Usbekistan entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Krausverfasst. Das Foto der Plowschale nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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