Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden. Heute berichtet Reem A. von ihrem “Mitbringsel” aus Syrien.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das “Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Eine Holzkiste aus Syrien – Reem A. erinnert sich

Die geometrischen Muster auf Reem A.s Holzkiste aus Syrien inspirierten sie zu einem Architekturstudium. Foto: Ansgar Wilkendorf

Ich bin in Damaskus aufgewachsen, über das wir sagen, sie sei eine Stadt für die Liebe und die Schönheit. Diese Holzkiste symbolisiert für mich das alte Damaskus, in das uns unser Vater, als meine Schwester und ich noch Kinder waren, oft mitgenommen hat.

Muslime und Christen leben dort als Nachbarn mit- und nebeneinander – es gibt keine Probleme. Wir sind jedes Wochenende in die Altstadt gefahren. Als wir einmal nur zu zweit spazieren waren, hat mir mein Vater eine schöne Geschichte über sich und meine Mutter erzählt. Auch sie sind dort sehr oft spazieren gegangen.

Die Architektur der Hauptstadt von Syrien

Ich war als Kind immer neugierig auf die Stadt, womöglich auch, da unser Vater immer viele Geschichten über die Altstadt erzählt hat. Viele der alten Häuser werden als Restaurant genutzt – ihre Wände und Fußböden sind mit eben solchen Mustern geschmückt, wie sie auch auf meiner Holzkiste zu sehen sind.

Auch gibt es viele Geschäfte, in denen vergleichbare Gegenstände oder Möbel mit Einlegearbeiten verkauft werden. Jedes Wochenende hat er uns mit in diese Restaurants genommen und ich war stets neugierig auf und fasziniert von diesen Mustern, habe immer viele Fragen gestellt, was sie bedeuten, für was sie stehen und was man aus ihnen herauslesen kann.

Mein Vater hat dann immer geantwortet, dass es viele Geschichten über diese komplexen geometrischen Muster gibt. Sie sind Teil des traditionellen islamischen Kunsthandwerks. Auch daher wirkt Damaskus für mich bis heute wie das Paradies: Dort gibt es immer neue Geschichten und neue Sachen zu finden.

Einmal, ich war dreizehn Jahre alt, als wir wieder in Altdamaskus spazieren gingen, hat er mir diese Kiste mit ihren Mustern aus geometrischen Formen gekauft und gesagt: „Ok, sie ist für dich, damit du die Muster auch zuhause sehen kannst.“

Es war mit der Auslöser für mein Studium der Architektur. Das wollte ich immer studieren, um meine Fragen über die Bedeutung der aufwendigen Intarsien beantworten zu können.

Ich bin nicht wegen des Kriegs nach Deutschland gekommen – mein Mann lebt seit 2016 hier und arbeitet als Architekt in Ehmen; meine Eltern sind noch in Syrien, aber meine Geschwister leben alle wie ich in Deutschland.

Die Verfasser

Der vorliegende Geschichte zum Land Syrien entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Krausverfasst. Das Foto der Holzkiste nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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