Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Mexiko: Talavera Poblana – Alia L.-H. erinnert sich

Alia L.-H.s Talavera Poblana. Foto: Ansgar Wilkendorf

Das hier zu sehende Tafelgeschirr nennt man Talavera Poblana – es ist typisch für meine Heimatstadt Puebla, die für ihr Töpferhandwerk bekannt ist. Dorthin gelangte es einst durch die spanischen Eroberer, die es aus ihrer Heimat, der Provinz Extremadura im Südwesten Spaniens mitgebracht hatten. Allerdings haben die Künstler in Puebla ganz eigene, für Mexiko typische Muster entwickelt, die sich von den spanischen deutlich absetzen.

Heute arbeiten in Puebla zahlreiche Familien mit vollkommen unterschiedlichen Mustern und Farben, traditionell sind jedoch jene in blau und weiß. Für mich ist die Talavera Poblana ein ganz besonderes Erinnerungsstück, handelt es sich dabei doch um ein gemeinsames Geschenk unserer Hochzeitsgäste.

Als mein Mann und ich im Jahre 1991 in Puebla geheiratet haben, haben wir uns ganz bewusst von unseren Gästen etwas Typisches aus meiner Heimat gewünscht. Mein Mann kommt aus Deutschland, sein Vertrag bei Volkswagen de México S.A. de C.V. galt lediglich für drei Jahre. So war ihm wie auch mir bewusst, dass wir nach Ablauf dieser Zeit nach Deutschland gehen würden.

Daher wünschten wir uns gezielt dieses Geschirrservice von unseren Gästen, da wir es uns allein nicht hätten leisten können. Ein Gast schenkte eine Tasse, ein anderer einen Teller, sodass wir schließlich einen Großteil beisammen hatten. Die noch fehlenden Teile haben wir dann selbst gekauft.

Auf diese Weise ist das Tafelgeschirr eng mit meinen Erinnerungen an diese Zeit verbunden, an meine Stadt Puebla und an mein Land. Durch unsere Talavera Poblana sind sie immer bei mir. Besonders mit der großen Kanne, meinem Lieblingsstück, sind Erinnerungen an einen sehr schönen Abschnitt meines Lebens verbunden.

Das Talavera Poblana als Teil der eigenen Geschichte

Ich bin im Norden Mexikos geboren, an der Grenze zu den USA. Meine Kindheit ist sowohl durch die amerikanische als auch durch die mexikanische Kultur geprägt. Ich war noch sehr jung, als ich mit meiner Familie nach Puebla, südwestlich von Mexiko-Stadt, gezogen bin. Dort liegen meine Wurzeln – in Puebla leben neben meiner mexikanischen Familie auch viele meiner Freunde, aber nun bin ich hier und ich musste hart dafür kämpfen, eine Brücke in die deutsche Gesellschaft zu schlagen.

Heute kann ich sagen, dass meine Seele, mein Geist und mein Herz auf harmonische Weise geteilt sind. Ich verbringe auch heute noch gerne Zeit in Mexiko, jedoch verspüre ich keine Sehnsucht mehr nach meinem Land.

Über die Zeit bin ich zu einer richtigen Wolfsburgerin geworden, ich gehöre hierher und bin sehr glücklich hier. Die Stadt hat mich angenommen und anerkannt. Zusammen mit anderen Menschen aus meiner Heimat und deutschen Freunden haben wir den ersten mexikanischen Verein in Wolfsburg gegründet und mir und vielen anderen damit weitere Türen geöffnet. Gemeinsam haben wir intensiv daran gearbeitet, dass die Mexikaner hier in Wolfsburg wahrgenommen werden. Darüber habe ich mit der Zeit ein gewisses Gleichgewicht gefunden, das es zu pflegen gilt – keine leichte Aufgabe.

Für den ersten Schritt ist viel Kraft nötig gewesen. Ich hätte es wohl nicht geschafft, aus meiner Sehnsucht nach der Heimat herauszukommen, hätte ich nicht auf die Unterstützung meines Mannes, unserer Kinder und vieler Freunde zählen können. Zudem gab mir mein Beruf als Journalistin einer großen mexikanischen Zeitung viel Energie und zahlreiche schöne Erlebnisse mit interessanten Menschen.

Die Erinnerungen, die durch die Talavera Poblana wachgerufen werden, machen mich längst nicht mehr traurig, sondern geben mir Kraft weiterzumachen und meine Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie ich damals.

Ein jeder hat eine Zukunft in seiner neuen Heimat, wenn er sich in die Gesellschaft integriert, seinen Teil beiträgt und sich korrekt verhält. Darum sehe ich es als meine Aufgabe an, anderen Menschen bei diesem Prozess des Ankommens zu helfen und ihnen die vielfältigen und wunderschönen Aspekte der deutschen Kultur – wie auch die Menschen selbst – zu zeigen.

Die Verfasser

Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto der Talavera Poblana nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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