ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt

May Ayim Grenzenlos und unverschämt – ein Gedicht gegen die deutsche Sch-einheit, blues in Schwarz-Weiß 1995.

„Rassismus gibt es im heutigen Deutschland nicht.“

Mit diesen Worten wird das Thema von May Ayims Diplomarbeit „Afro-Deutsche: Ihre Kultur- und Sozialgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen“ abgelehnt.

Ich frage mich, wie Ayim in diesem Moment wohl zumute war: War sie enttäuscht? Verärgert? Resigniert?

Dass Rassismus im Deutschland der 1980er-Jahre durchaus existierte, hatte Ayim selber erfahren. Als Schwarze in Deutschland begegnete ihr dieser oft in ihrem Alltag.

auch wenn ihr mich gerne deutsch haben wollt

May Ayim wird als uneheliches Kind einer weißen Frau und eines ghanaischen, schwarzen, Medizinstudenten 1960 in Hamburg geboren. Kurz darauf gibt ihre Mutter sie zur Adoption frei. Aus rechtlichen Gründen darf ihr Vater sie nicht mit nach Ghana zu seiner Familie nehmen.

Die weiße Familie Opitz in Münster (Westfalen) adoptiert sie. Bei ihnen wächst May Ayim, deren Name zu diesem Zeitpunkt Sylvia Brigitte Gertrud Opitz lautet, in einem strengen Umfeld auf. Sie solle zu einem Musterkind werden, dass alle rassistischen Vorurteile Lügen strafe. Vermutlich denken ihre Eltern, dass sie durch perfektes Verhalten vor Anfeindungen geschützt sei.

Trotz der Versuche, ihr den Bezug zu ihrer Hautfarbe abzuerziehen, macht Ayim immer wieder Erfahrungen mit Diskriminierung. Schon früh begreift sie, dass sie aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe als „anders“ wahrgenommen wird.

Jahrelang lebte ich mit dem Empfinden, in der deutschen Gesellschaft weder eine Geschichte noch eine Zukunft zu haben, sondern eines Tages auswandern zu müssen. Daß das sehr belastend ist, steht außer Frage.

May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Berlin 1997, S. 126.

und werde trotzdem deutsch sein

Nach ihrem Abitur 1979 zieht sie nach Regensburg. Dort studiert sie Pädagogik und Psychologie. Während dieser Zeit besucht sie auch ihren Vater in Kenia und seine Familie in Ghana. Heimat findet sie auch dort nicht, gilt als „Weiße“. Doch eine gewisse Verbundenheit entwickelt sich, ab 1992 nutzt sie den Nachnamen ihres Vaters für Veröffentlichungen. In Deutschland geht ihre Identitätssuche weiter.

Letztlich findet Ayim in Berlin eine Prüferin, die ihre Diplomarbeit akzeptiert. Auch in der multikulturellen Stadt fühlt sie sich wohl, fällt weniger auf. Bald macht sie hier eine für sie prägende Bekanntschaft: Sie lernt die US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde kennen, die ab 1984 eine Gastprofessur an der Freien Universität innehat. Für Ayim und andere afro-deutsche Frauen wird Lorde nicht nur Freundin, sondern auch Mentorin. Lorde ermutigt sie, über ihre Erfahrungen als Schwarze Frauen und ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus zu sprechen und zu schreiben.

Farbe bekennen

Gleich in mehrerer Hinsicht wird Ayim zu einer der Initiatorinnen der afrodeutschen Bewegung.

Da wäre zum einen die Anthologie Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, in der May Ayim ihre Diplomarbeit veröffentlicht. Gemeinsam mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz gibt sie das Buch 1986 heraus. Zunächst findet es vor allem in der afrodeutschen Gemeinschaft Zuspruch. Doch mit den Jahren und immer wieder folgenden Neuauflagen entwickelt es sich zu einem Standardwerk.

Buchcover „Farbe bekennen“ (Foto: Pressestelle, Orlanda Verlag)
Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. May Ayim, Katharina Oguntoye, Dagmar Schultz (Hg.), Verlag: Orlanda Verlag, ISBN:978-3-944666-20-4

Basierend auf dem Begriff „Afro-American“ (dt. Afro-Amerikaner*) entwickelt Ayim im Austausch mit anderen Schwarzen deutschen Frauen die Selbstbezeichnung „Afrodeutsch“. In der Benennung hält sie fest: Sie hat Wurzeln in Afrika und Deutschland. Beide Kulturen sind Teil ihrer Identität. Weder die eine, noch die andere wird sie sich absprechen lassen.

Mitte der 1980er Jahre gründet sie die Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland (heute: Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V.) mit. Der Verein ist die älteste Selbstorganisation von und für Schwarze Menschen in Deutschland. Er trägt u.a. wesentlich zur Vernetzung Schwarzer Menschen bei und bringt ihre Perspektive in Gesellschaft und Politik ein.

Die ISD vertritt die Interessen von Schwarzen Menschen in Gesellschaft und Politik und will auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen. Die Themen Alltagsrassismus, rassistische Gewalt und Polizeigewalt sind zentrale Schwerpunkte der Arbeit. Schwarzer Widerstand ist für uns in erster Linie ein Kampf um die Wahrnehmung dieser Perspektiven. 

„Über uns“ der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V., https://isdonline.de/ueber-uns/#werwirsind

Sch-Einheit

Ihre Erfahrungen als Schwarze in Deutschland waren nicht das einzige Thema, das May Ayim beschäftigte. Sie verstand früh, dass man Unterdrückungsstrukturen und Emazipationsbewegungen zusammen denken sollte. So lässt sich die Schwarze Frauenbewegung (in Deutschland) als intersektional bezeichnen, bevor es diesen Begriff überhaupt gab.

9. November 1989: Die Mauer fällt. Viel Freude ist damit verbunden, ohne Zweifel auch bei Ayim. Doch mit dem Mauerfall geht auch ein Stück Unbekümmertheit, vielleicht sogar Freiheit verloren. Denn die Wiedervereinigung und ein Großteil der 1990er Jahre sind überschattet von Gewalt gegen Minderheiten. Übergriffe auf „Andersaussehende“, darunter etwa 1990 die Ermordung von Amadeo Antonio und brennende Asylbewerberheime: Als Fremden- und Ausländerfeindlich werden die Angriffe Rechtsextremer bewertet. Selten jedoch, als das, was sie sind: Rassistisch.

Auf Ayim wirken diese Ereignisse, wie auf viele Schwarze in Deutschland, traumatisch. Kritisch begleitet sie den Wiedervereinigungsprozess, die „Sch-Einheit“, wie sie es nennt. Und findet auch lyrisch deutliche Worte:

im neuvereinten deuschland
das sich so gerne
viel zu gerne
wiedervereinigt nennt
dort haben
in diesem und jenem ort
zuerst häuser
dann menschen
gebrannt

erst im osten dann im westen
dann
im ganzen land

erst zuerst dann wieder

es ist nicht wahr
daß es nicht wahr ist
so war es

so ist es:
deutschland im herbst
mir graut vor dem winter

May Ayim, „blues in schwarz weiß“, erschienen 1995.

Mehr als Schwarz

Als eine der Stimmen der Schwarzen Minderheit wird Ayim in den 1990er Jahren national und international bekannt. Immer wieder redete sie gegen Rassismus und Unterdrückung an. Dass sie mehr beschäftigte, als ihr Schwarzsein, ihre Identitätssuche, das kam viel zu selten zur Sprache. Die Reduzierung auf ihre Minderheitenrolle war eine weitere Kränkung für Ayim, die auch ganz wunderbare Gedichte über Alltag und Liebe schrieb.

Mitte der 90er hat May Ayim einen Zusammenbruch. Was genau es war – zu viel Arbeit, zu hohe Erwartungen, zu viel Druck – ist unklar. Dann trifft sie eine weitere Diagnose: Multiple Sklerose. Mehrmals befindet sich Ayim in den kommenden Monaten in psychiatrischer Behandlung. Am 9. August 1996 tötet sie sich selbst.

May Ayim war eine der Initiatorinnen der afrodeutschen Bewegung und gilt auch heute noch als eine ihrer Ikonen. In Erinnerung an sie wurde 2009 das Kreuzberger Groeben-Ufer in May-Ayim-Ufer umbenannt.

Wenn wir an May Ayim erinnern, erinnern wir an ihren Aktivismus, ihr Schwarzsein. Aber auch daran, dass sie mehr als Schwarz war. Ein Mensch mit vielen Facetten und einem ganz ungewöhnlichen Gespür für Worte.

abschied

was sollen die letzten worte sein lebet wohl auf wiedersehen
irgendwann irgendwo?
was sollen die letzten taten sein ein letzter brief ein telefonat
ein leises lied?
was soll der letzte wunsch sein
verzeiht mir
vergeßt mich nicht
ich hab euch lieb?
was soll der letzte gedanke sein danke?
danke

May Ayim, Nachtgesang, 1997.
Titelfoto: Gedenktafel May-Ayim-Ufer (Kreuzberg). Foto: OTFW, Berlin; Wikipedia gemeinfrei

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