Als im Sommer 2015 die Zahl der Asylsuchenden in Europa drastisch anstieg, stieß das umstrittene Schlagwort „Flüchtlingskrise“ lange politische Debatten über Asylpolitik an. Viele EU-Bürger:innen sprachen und sprechen sich bis heute für eine begrenzte Aufnahme von Geflüchteten aus. Andere kritisieren die Abriegelung der „Festung Europa“. Daneben gibt auch die prekäre Unterbringung in Sammellagern Anlass zu Diskussionen rund um den Umgang mit Asylsuchenden.

Währenddessen kursierten in den Medien drastische Bilder von langen Menschenschlangen auf ihrem Weg durch Europa. Unsere Wahrnehmung von Flüchtenden, Fluchtursachen, aber auch von Fluchtwegen hat sich seither verändert. Vor allem letztere sind verstärkt in den Fokus gerückt. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind die sog. „Balkanroute(n)“ – also der Weg durch Südosteuropa nach (Nord-)Europa. Dabei setzten Fluchtbewegungen über den Balkan nicht erst Mitte der 2010er Jahre ein. In diesem Beitrag wollen wir aktuelle Debatten zu der beziehungsweise den Balkanroute(n) um einen Blick auf ihre Geschichte ergänzen.

Was ist eigentlich der Balkan?

Wenn wir über die Balkanroute(n) sprechen müssen wir zunächst eine Frage klären: Was ist eigentlich der Balkan? Heute steht diese Bezeichnung stellvertretend für die Balkanhalbinsel und wird meist als Synonym für Südosteuropa verwendet. Darunter fallen neben Griechenland unter anderem die Länder Mazedonien, Bulgarien, Serbien, Rumänien, Albanien, Kroatien und Slowenien.

Was die Sammelbezeichnung Balkan suggeriert ist vor allem in den Augen vieler Nordwesteuropäer:innen eine vermeintliche Homogenität der betroffenen Staaten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts vereinten diese angeblich negative Eigenschaften wie wirtschaftliche Rückständigkeit, politische Instabilität und hohe Kriminalitätsraten im Vergleich zu nordwesteuropäischen Ländern. Dass es sich dabei um vereinfachende Stereotype handelt, ist heute theoretisch bekannt. In vielen (nord-)westlichen Ländern wirken diese Vorurteile aber weiter fort. Nach den unterschiedlichen Hintergründen für beispielsweise ökonomische Probleme in einzelnen Ländern Südosteuropas wird dabei nicht zwangsläufig gefragt. Ebenso wenig ist bislang das Bewusstsein über kulturelle, wirtschaftliche und politische Unterschiede gewachsen.

Die Balkanrouten

Wie bei dem Begriff „Balkan“ handelt es sich auch bei der „Balkanroute“ um ein loseres Konzept als man zunächst vermuten könnte. Hinter dem, was landläufig als die Balkanroute bezeichnet wird, verbergen sich tatsächlich mehrere Fluchtkorridore durch den Südosten Europas Richtung Nordwesten. Zumeist ist von einer Ost- und einer West-Balkanroute die Rede. Manche sprechen auch von einer Nord- und Südroute. Erstere meint zunächst die nördlichen Routen über Bulgarien, Rumänien oder Serbien, Ungarn und weiter Richtung Westeuropa. Südlich davon verlaufen die meist genutzten Fluchtwege über Griechenland, entlang der Ostküste des adriatischen Meeres und teilweise über Italien. Genau vorgezeichnete Wege gibt es nicht. Dies liegt auch daran, dass sich Geflüchtete immer wieder neue Fluchtrouten erschließen müssen, abhängig davon, wo innereuropäische Grenzen geschlossen werden.

Geschlossene und offene Grenzen

Je nach Vorgehen der Behörden am Grenzübergang, dem Auf- oder Abbau einer Grenzanlage, spricht man von einer Schließung beziehungsweise Öffnung der Balkanroute(n). Grundsätzlich gilt: Innerhalb des EU-Schengenraumes sind keine Grenzkontrollen vorgesehen. Die einzige Hürde, die Geflüchtete auf ihrem Weg in ein EU-Land demnach überwinden müssten, ist die entsprechende Außengrenze, über die sie erstmals in die EU gelangen. Bei einer legalen Einreise können Geflüchtete anschließend im Ankunftsland Asyl beantragen. Kommen jedoch besonders große Menschenmengen an den EU-Außengrenzen an, stoßen diese regulären Verfahren beziehungsweise die Kapazitäten der Aufnahmeländer an ihre Grenzen. So fiel in den Jahren 2015 und 2016 in vielen Fällen die Erstregistrierung im Ankunftsland weg. In solchen Ausnahmesituationen können von einzelnen EU-Ländern und Nicht-EU-Mitgliedern des Schengenraumes Grenzkontrollen neu eingeführt werden. Beispiele für Deutschland waren in den vergangenen Jahren stichprobenartige Grenzkontrollen ab Herbst 2015.

Entscheidendere Hindernisse auf ihrem Weg durch Südosteuropa stellen für Geflüchtete entlang der Balkanroute(n) heute aber vor allem die ausgebauten Grenzanlagen zwischen Griechenland und Mazedonien sowie zwischen Serbien und Ungarn dar. Aufgrund der Kontrollen kommt auch eine Fortbewegung über öffentliche Verkehrsmittel meist nicht in Frage. Nach tagelangem Warten im Budapester Hauptbahnhof nahmen im August 2015 über tausend Gestrandete ihr Schicksal selbst in die Hand und wanderten über die Autobahn weiter bis zur österreichischen Grenze. Betroffenen und sympathisierenden Organisationen ist diese Aktion als „March of Hope“ im Gedächtnis geblieben.

Diskussionen über Asylpolitik und die Balkanroute(n)

Während den Einen das Weiterkommen endlich wieder etwas Hoffnung gab, stieg in den meisten potenziellen Aufnahmestaaten die Angst vor der drastisch steigenden Anzahl der Asylsuchenden. Zwischen und innerhalb der EU-Mitgliedstaaten entstanden heftige politische Grabenkämpfe. Wörter wie „Chaos“, „Krise“, „Kontrollverlust“ und die Forderung, die Balkanroute endgültig zu schließen, wurden laut. In den öffentlichen Medienberichten sind die Balkanroute(n) bis heute jedoch nicht nur in Verruf, wenn es um den unkontrollierten Durchzug vieler Geflüchteter geht. Viele assoziieren mit dem Ausdruck „Balkanroute“ auch Drogenschmuggel und kriminelle Schleuser, die Geflüchtete für hohe Preise und mit oftmals unhaltbaren Versprechungen durch Europa transportieren. Dagegen gibt es auch Stimmen, die auf die prekären rechtlichen Rahmenbedingungen für Geflüchtete aufmerksam machen. Flüchtenden würden demnach durch eine unzulängliche Asylpolitik zur illegalen Ein- und Weiterreise mit fragwürdigen Mitteln gezwungen.

Flucht innerhalb Europas

So unterschiedlich die Länder und Ansichten zur Migrationspolitik, so unterschiedlich sind auch die Schicksale und Fluchtgeschichten über „den Balkan“. Landwege durch Südost- nach Nordwesteuropa werden nicht erst seit 2015 von Flüchtenden genutzt. Die öffentliche Wahrnehmung der Route(n) sowie der persönliche Bezug zum Balkan von Seiten der Geflüchteten variieren stark. Ein Beispiel für einen anderen Blickwinkel auf die Balkanroute(n) gibt uns der deutsche Autor und Fernsehmoderator Andreas Wunn. 2018 veröffentlichte er sein erstes Buch „Mutters Flucht“ über eine Reise mit seiner Mutter und seinem Bruder ein Jahr zuvor. Ausgelöst durch die Medienberichte über mehrere hunderttausend Geflüchtete, beschlossen sie selbst die Balkanroute(n) entlang zu reisen. Ihr Weg verlief jedoch von Norden nach Süden, also in die Gegenrichtung. Dabei ging es der Familie auch um eine persönliche Spurensuche. Das Ziel: nicht Syrien oder ein anderes Land im nahen Osten, sondern Serbien, der Geburts- und erste Wohnort der Mutter.

Als potenzielle Sympathisant:innen des Deutschen Reiches war ihre Familie dort wie viele andere Donauschwaben – eine deutsche Minderheit in der Region Banat – nach 1945 der Verfolgung durch ortsansässige Partisanen ausgesetzt. Aus diesem Grund floh sie 1947 ihrerseits mit Mutter und Bruder über Österreich nach Deutschland. Dabei wurden sie nicht von einer großen Menschenmenge begleitet. Auch die Sprachbarrieren waren kleiner als bei Flüchtenden aus nahöstlichen oder afrikanischen Ländern. Einige Gemeinsamkeiten in ihren Geschichten lassen sich jedoch finden. Neben den Strapazen und Ängsten auf der Flucht, teilen die Mutter des Autors und viele Geflüchtete seit 2015 eine gemeinsame Erfahrung: die teils unkoordinierte Reise entlang der Pfade und Grenzen, die heute als Teil der Balkanroute(n) angesehen werden.

Flucht nicht gleich Flucht?

Ein ähnlicher Gedanke wie Wunn und seiner Familie kam dem irakisch-deutschen Autoren Najem Wali: Auch ihm sind die Balkanroute(n) aus der eigenen Fluchterfahrung bekannt. 1980 floh er aus dem diktatorisch regierten Irak über die Türkei, Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn, die Tschechoslowakei bis nach Deutschland. Als er 2015 die Bilder von Menschen auf ihrer Flucht durch Südosteuropa sah, fühlte er sich selbst betroffen und reiste an den Ort des Geschehens. Im Gegensatz zu seinen Erlebnissen dort muss er 2015 jedoch anmerken, dass seine eigene Flucht mit regulären Zügen ungleich „bequemer“ gewesen sei. Härter als ihn traf es auch seine Schwester, die Anfang der 2000er Jahre entlang der Balkanroute(n) nach Deutschland floh. Um überhaupt den illegalen Weg zu schaffen, musste sie sich dabei Schleppern anvertrauen.

Bis heute bieten diese trotz lebensgefährlicher, kostenspieliger Deals und Betrug, die oftmals einzige Möglichkeit für Asylsuchende in und durch die EU zu gelangen. Aufgrund von Grenzschließungen und weiteren Kontrollen stranden viele dabei in unterversorgten Flüchtlingscamps in Südosteuropa. Als freiwilliger Helfer traf Wali 2015 dort Menschen, die frierend, krank und hungernd über mehrere Monate oder Jahre bis zur Weiterreise ausharren mussten. Die Erfahrungen bei seinem Einsatz in den Lagern brachten Wali schließlich auf eine Idee: Er wollte die Geschichte der Balkanroute(n) erzählen. Dabei setzt er nicht im Jahr 2015 an, sondern gleich mehrere tausend Jahre vorher.

Über dreitausend Jahre Balkanroute(n)

„Die Balkanroute. Fluch und Segen der Jahrtausende“ nennt sich der dünne Band, erschienen 2017. Darin schildert Wali die Bedeutung der Nord-Süd-Transitwege aus und im Nahen Osten bis nach Nordwesteuropa und in die Gegenrichtung. Nicht nur Flucht spielt hierbei eine Rolle. In antiken Mythen ist es die Suche nach Unsterblichkeit. Vom 11. bis ins 13. Jahrhundert waren es die Kreuzfahrer, die ihrerseits über Südosteuropa ins „Heilige Land“ einfielen und dort Tod und Schrecken verbreiteten. Weitere sechs Jahrhunderte später reisten europäische Gelehrte über Griechenland ins damalige Konstantinopel und zurück. Wieder wurden die Balkenroute(n) Zeuge von Kriegen auf der einen und einem fruchtbaren kulturellen Austausch auf der anderen Seite.

Titelbild: Bahngleise, Pixabay, gemeinfrei. 

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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