Politische Umbrüche bieten spannende Erfahrungsräume für kollektive Emotionen und Handlungen. Der Umbruch als eine abrupte Änderung der bestehenden kulturellen Ordnung, der politischen Herrschaft und des Alltags mobilisiert diese Emotionen. Und er prägt den gesellschaftlichen Diskurs über die Legitimation der neuen Machtverhältnisse. Er kreiert auch neue Räume für die Deutung der Realität und für Erinnerungskultur.

Erfahrungen der sogenannten Russischsprachigen

Diese Elemente charakterisieren auch die Erfahrungen der sogenannten Russischsprachigen in Deutschland. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der ruckhafte Übergang zur Marktwirtschaft, die Etablierung des demokratischen Parteiensystems und die Entdeckung der „verbotenen“ Geschichte vor der Oktoberrevolution 1917 sowie die Dekonstruktion der sowjetischen Machtherrschaft. Das alles erzeugte einen gewaltigen kulturellen Druck auf die ehemaligen Sowjetbürger. Sie wurden mit einer enormen Beschleunigung der Moderne und einem mehrschichtigen „Einbruch“ der Vergangenheit konfrontiert. In einer solchen blitzartigen Umwandlung eines scheinbar stabilen politischen Systems wurden Erinnerungsinhalte zum wichtigen Element der Stabilisierung einer „neuen Welt“ nach 1990/91.

Erinnerung gegen Unsicherheit

In dieser Zeit entstanden zahlreiche politisch aktuelle kollektive Erinnerungen, die der Gruppe der „Betroffenen“ wichtiges Vokabular lieferten. Sie boten Erklärungen für das Geschehen und ermöglichten Szenarien der Integration oder Nicht-Integration in eine neue politische, wirtschaftliche und soziale Kultur.

Diesen Erinnerungen kommt erhebliche Bedeutung zu, weil zahlreiche Verluste, Wunden und Traumata sowie das Verschwinden des etablierten, sicher gedachten kulturellen und politischen Raums generell dazu führen, dass das kollektive Gedächtnis als Faktor gesellschaftlicher Entwicklungen wichtiger wird (Pierre Nora). Dies gilt übrigens ebenso für andere Transformationsperioden im Europa des 20. Jahrhunderts. Mit der Bedeutung in turbulenten Zeiten steigen aber auch die Manipulationspotenziale an gemeinsamen Erinnerungen.

Erinnerungsräume der Russischsprachigen

In der Gruppe der Russischsprachigen in Deutschland spielen nun Erinnerungsinhalte aus verschiedenen Perioden und politischen Formationen eine Rolle für ihre Positionierung in der modernen deutschen Gesellschaft. Hierbei sind auch die zahlreichen Herkunftsländer der Gruppe als alte und zugleich neue Erinnerungsräume seit 1991 zu berücksichtigen. Es gibt also nicht den einen Bezugsraum. Hinter den kollektiven Erinnerungen dieser Gruppe steht vielmehr ein kompliziertes Geflecht, das die Vielfalt der Transformationsprozesse in Europa seit Anfang der 1990er Jahre widerspiegelt.

Russischsprachige sind eine extrem diverse Gruppe

Kompliziert wird es schon bei der Definition der Gruppe, die sich kollektiv an etwas erinnert. Die Russischsprachigen sind eine ethnisch, kulturell, sozial und religiös extrem diverse Gruppe. Deren Mitglieder stammen aus verschiedenen Ethnien der ehemaligen UdSSR. Sie erleben und pflegen Russisch als Sprache sowie russische Literatur und Alltagskultur als gemeinsames Erbe im heutigen Deutschland. Dabei können ethnische Teilgruppen wenig oder keinen direkten Bezug zur russischen Ethnie haben und sich trotzdem der russischen Kultur zugehörig fühlen. Dies erklärt sich teilweise durch die historisch national geprägte Politik des Zarenreichs und später auch der Sowjetunion. Zum Teil fördert aber auch die Unterhaltungskultur des heutigen Russland die Identifikation, indem das sowjetische kulturelle Erbe politisch instrumentalisiert und medial intensiv vermittelt wird.

Russifizierungstendenzen

Reliefs zur Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg
am sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow. Das Eherennmal gibt
einen Eindruck von der großen Bedeutung, welche der Sieg
über Deutschland 1945 in der kollektiven Erinnerung einnimmt.
Foto: Jan Schapira

Russifizierungstendenzen waren seit der Regierungszeit von Zar Alexander III. ständig Teil des politischen Diskurses. Die Oktoberrevolution von 1917 und die Internationalismuspolitik der frühen bolschewikischen Regierung haben daran nichts Wesentliches geändert. Bereits in den späten 1930er Jahren war die Kulturpolitik Stalins Ausdruck eines nationalen Bolschewismus. Dieser wurde während des Zweiten Weltkriegs und besonders kurz nach 1945 erneut für die Mobilisierung der Gesellschaft intensiviert. Als Ergebnis verschmolzen das Russische und das Bolschewikische im sowjetischen Erinnerungsraum zusammen. Der Sieg über den Nationalsozialismus wurde als kollektive Heldentat des sogenannten sowjetischen Volkes konstruiert und wird so bis heute in Russland politisch und medial gefeiert.

Deutungskluften zwischen Deutschland und Russland

Das Phänomen der Vergangenheitsbewältigung ist in der Russischsprachigen Community hingegen kaum präsent. Daher sind viele „Leichen“ (Alexander Etkind) aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weiterhin nicht begraben, nicht beweint und nicht hinreichend besprochen. Durch eine erfolgreiche multimediale Propaganda aus dem heutigen Russland werden hingegen Formen einer hierarchischen, unkritischen Erinnerungskultur direkt und intensiv nach Deutschland transponiert.

Unterschiede und Deutungskluft

Es sind spürbare Unterschiede in der Wahrnehmung der demokratischen Politik und der europäischen Geschichte entstanden, die in den vergangenen Jahren immer augenfälliger wurden. Eine ganze Reihe von Begriffen wie Menschenrechte, Minderheitenpolitik, Anerkennung von Homo- und Transsexuellen sowie politischer Pluralismus werden in den beiden Gesellschaften durchaus unterschiedlich wahrgenommen und dementsprechend in der Politik anders behandelt. Diese Deutungskluften führen bis hin zu konstruierten parallelen Realitäten, die durch Mediengebrauch und Alltagspraktiken aus dem Herkunftsland intensiviert werden: Man existiert gleichzeitig in Deutschland und im russischsprachigen Politik- und Unterhaltungsraum. Dadurch entstehen Spannungen, die nicht immer leicht kommunizierbar sind. Eine Interpretation der modernen Demokratie, in der die Akzeptanz von Minderheitenkulturen einen hohen Stellenwert genießt, kann unter Umständen mit den traditionellen, lange Zeit im Herkunftsland geübten Einstellungen, Meinungen und Tabus in Konflikt geraten. Hinzu kommt die oft dramatische und anstrengende eigene Einwanderungserfahrung in Deutschland, die nicht selten den radikalen Bruch mit dem bisherigen beruflichen und finanziellen Status sowie den kulturellen Gewohnheiten bedeutet. In einer glorifizierten sowjetischen Vergangenheit wird hier mitunter eine Art Aufwertung der eigenen Position gesucht. Das Sehnen nach Stabilität und Klarheit in der neuen Ankunftsgesellschaft wird in die Vergangenheit projiziert, in der das ruhmreiche, Imperial-Russische und das Sowjetische zu einem hybriden Erinnerungsraum vermischt werden.

Fehlende Erfahrung pluralistisch geprägter Debatte über die Vergangenheit

Dabei kann die Geschichte der sowjetischen Diktatur und besonders des Stalinismus fragmentiert wahrgenommen werden. Der unkritische Umgang mit der Geschichte der Sowjetmacht schafft Räume für Nostalgien und ein Sich-Einkapseln in der ausgewählten Vergangenheit des Herkunftslandes, ohne dessen historische und aktuelle Herausforderungen wahrzunehmen. Dabei muss die mangelnde Erfahrung einer pluralistisch geprägten Debatte über die Vergangenheit in der Sowjetunion als ein wichtiger Faktor erwähnt werden: Abgesehen von verfolgten Dissidenten führte kaum jemand eine öffentliche Debatte über die Geschichte. Die kurze und turbulente Perestroika-Periode von 1985 bis 1990 war zu kurz, um eine Pluralisierung der postsowjetischen Gesellschaften langfristig zu verankern.

Mehr Informationen zum Bundesverband russischsprachiger Eltern finden Sie unter www.bvre.de. Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und der BVRE arbeiten im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“ gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ zusammen. Screenshot 28.10.2019.

Erinnerungen als Potenzial und Labor für Dialog über Zugehörigkeit

Doch in der russischsprachigen Community gibt es auch andere, mehr auf die Integration in die deutsche Demokratie ausgerichtete Ansätze. Erinnerungen werden hierbei als Potenzial und Labor für einen Dialog über Zugehörigkeitsfragen betrachtet. Immer mehr Vertreter der Zivilgesellschaft aus dem Milieu machen von ihren Erinnerungen Gebrauch und betrachten diese als wesentliches Element einer Projekttätigkeit. Zu ihnen gehören auch die Mitglieder des Bundesverbands russischsprachiger Eltern (BVRE), die Instrumente für einen Dialog über Erinnerungen und politische Mythen aus der Sowjetzeit entwickeln.

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Über den Autor

Deniss Hanovs

Dr. art. Deniss Hanovs ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Riga Stradins Universität und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverbandes russischsprachiger Eltern (BVRE). Seine Beiträge geben die persönliche Meinung des Autors wieder und vertreten nicht die Meinung aller Mitglieder des BVRE.

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