In der Serie 89/90 erzählen wir Geschichten aus dem migrantischen Blickwinkel auf den Mauerfall 1989 und die Wiedervereinigung vor 30 Jahren.
1990 war ich noch nicht auf der Welt, ich wurde erst zwei Jahre später in der neuen Bundesrepublik geboren. Darum erinnere ich mich selbst nicht an die Zeit der politischen Wende in Deutschland. Ich kann weder von eigenen Erlebnissen als vietnamesische Staatsbürgerin in der DDR noch in der neuen BRD berichten. Von klein auf erzählte mir aber mein Vater von seinen Ankünften in Deutschland, zunächst 1974 in Gotha, dann erneut 1988 in Berlin. Beide Male lernte er Freunde und Freundinnen kennen, die sowohl sein, aber auch mein Leben jahrzehntelang begleiteten. Auf Festen und gemeinsamen Abendessen tauschten er und die anderen Anekdoten von damals aus. Und wir, Töchter und Söhne dieser Wahlverwandtschaft, die mal besser, mal schlechter vietnamesisch verstanden, hörten immer wieder gespannt und amüsiert zu.
Mein Onkel P. sagte mir, nachdem wir knapp eine Stunde lang über seine Erinnerungen an die Wende sprachen: „Nimm mir das bitte nicht übel, aber eins muss ich klarstellen: Egal, wie eng dein Verhältnis zu deinem Vater sein mag, du wirst sein Leben nie in Gänze verstehen. Genauso wenig wirst du mein Leben verstehen können.“ Wir saßen im Wohnzimmer meiner Eltern, mein Vater hatte Onkel P. zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Onkel P. war kein Vertragsarbeiter. Er kam zwar wie mein Vater 1974 für eine Ausbildung in Ingenieurspädagogik in die DDR und musste nach deren Absolvierung 1981 nach Vietnam zurückkehren. Dies war so zwischen den sozialistischen Bruderstaaten ausgemacht. Nicht vereinbart wurde jedoch, dass Bürgerinnen und Bürger der beiden Staaten sich ineinander verlieben konnten.
So war es jedoch bei Onkel P., weshalb er direkt nach seiner Rückkehr einen Ausreiseantrag bei den vietnamesischen Behörden stellte. Seine Partnerin war zu dem Zeitpunkt bereits hochschwanger, aber es mussten noch drei weitere Jahre vergehen, ehe die Familie in Berlin zusammengeführt wurde. Onkel H. zufolge wurden solche Beziehungen von der DDR und der sozialistischen Republik Vietnam nicht gefördert, aber auch nicht verboten, damit der Anschein internationaler Solidarität gewahrt blieb.
Hergekommen, um Wurzeln zu schlagen
In der DDR angekommen, konnte Onkel P. seine erlernte Tätigkeit in einem Kombinat für Herrenbekleidung fortsetzen. Er war dort zuständig für die Koordination „ausländischer Werktätiger“ des gesamten Kombinats, das sich über zahlreiche Standorte in der DDR erstreckte. Seine Aufgabe war es, sich im Namen des Kombinats um sämtliche Angelegenheiten vietnamesischer Vertragsarbeiter zu kümmern. Durch diesen Beruf erlangte er Einsicht in unzählige Schicksale seiner Landsleute. Privat stand er mit ihnen nicht in Kontakt. Sein Freundeskreis umfasste Vietnamesinnen und Vietnamesen mit ähnlichen Erfahrungen, etwa der binationalen Ehe oder der Auswanderung aus Vietnam.
„Ich bin hierhergekommen, um bei meiner Familie zu sein und Wurzeln zu schlagen. Als ausgewanderter Vietnamese habe ich ganz andere Erfahrungen gemacht als die Vertragsarbeiter“, erklärte mir Onkel P. seine Geschichte. Ich nahm an, dass der Mauerfall für ihn einen großen Schock bedeutet hatte, da er schließlich in die DDR und nicht in die BRD eingewandert sei. Auf mein Fragen entgegnete er sachlich, dass er zwar sehr überrascht gewesen sei, es ihn aber emotional nicht sonderlich getroffen habe. Im Vergleich zu den DDR-Bürgern hatte er keinerlei persönliche Verbindungen nach Westdeutschland, und so fühlte sich die Wiedervereinigung keineswegs wie ein besonderer Moment in seinem Leben an. Da er durch die Ehe und den Einwanderungsprozess über einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügte, musste er keine existenziellen Ängste ausstehen.
Existenzielle Ängste
Ganz anders erging es meinem Vater. Seine zweite Ankunft in der DDR fand im Rahmen des bilateralen „Abkommens zur Ausbildung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte“ mit Vietnam statt. Ein Jahr vor dem Mauerfall setzte er erneut seinen Fuß auf DDR-Boden, diesmal reiste er nicht mit der transsibirischen Eisenbahn an, sondern mit dem Flugzeug. Er wurde als Übersetzer für den VEB Fernsehkolbenwerk Friedrichshain-Tschernitz in Brandenburg eingesetzt. Dort lebte er im Wohnheim mit seinen allesamt männlichen Kollegen aus Vietnam, zusammen waren sie etwa 30 Personen.
Mein Vater bemerkte schon Monate vor dem Mauerfall eine angespannte Stimmung. Menschen gingen friedlich demonstrieren, aber auch jugendliche Neonazis begannen hier und da zu randalieren. „Als ich wenige Monate nach dem Mauerfall am Hauptbahnhof Cottbus ausstieg, breitete sich ein Meer an jungen kahlgeschorenen Männern vor mir aus. Sie alle riefen ‚Ausländer raus‘ oder ‚Deutschland den Deutschen‘ und bedrohten mich und andere mit abgeschlagenen Flaschenhälsen. Sie haben uns Ausländer gejagt.“ So schilderte mir mein Vater seine Eindrücke von der Wende. Er fügte hinzu, dass er auch Jahre nach der Wiedervereinigung auf der Straße immer wieder angepöbelt wurde, mit mir als Kleinkind an der Hand.
Da der Arbeitsvertrag meines Vaters noch bis 1993 wirksam war, hatte er nicht unmittelbar nach der Wiedervereinigung um seine Zukunft zu bangen. Der Betrieb wurde zwischenzeitlich von Samsung übernommen und Diskussionen über den weiteren Verbleib der Vertragsarbeiter wurden laut. Mein Vater erzählte mir, dass an einem Tag sein deutscher Vorgesetzter zu ihm kam und in bedauerlichem Ton die geplante Entlassung von 15 Vertragsarbeitern mitteilte: Man würde gerne alle behalten, jedoch befürchte man einen Aufruhr der deutschen Kollegen, sollte der Verdacht aufkommen, Vietnamesen würden „bevorzugt“. Die Zeit der deutschen Wiedervereinigung bedeutete für meinen Vater also eine Zeit des Abschieds. Lieb gewonnene Kollegen packten ihre Koffer und kehrten zurück in die Heimat, auf die mein Vater noch auf unbestimmte Zeit zu verzichten beschloss.
Nur noch ein paar Jahre …
Mein Vater nahm sich vor, noch ein paar Jahre in Deutschland zu bleiben, um ausreichend Startkapital für sich, seine Eltern und seine Geschwister in Vietnam zu verdienen. Er träumte von einem Neustart in seiner Heimatstadt als Elektromechaniker, der in seinem Geschäft Reparaturen anbietet. „Aber so wie das Leben eben ist“, sagte er mit einem Schmunzeln, „man schuftet und schuftet und irgendwann kommt man in ein Alter, in dem man feststellt, dass man sich eigentlich auch eine Familie wünscht.“
1991 heirateten er und meine Mutter, sie lernten sich in Deutschland kennen. Ein Jahr darauf war ich auf der Welt. Selten liefen die Dinge nach Plan, so mein Vater: „Mit einer kleinen Tochter im Arm konnte ich mir das Leben in Vietnam wieder abschminken. Hier geboren und dann zurück in ein Land, das gerade von einer massiven Wirtschaftskrise betroffen war – das konnte ich dir nicht antun.“ Mein Vater blieb also weiterhin hier mit der Absicht zurückzukehren, sobald ich mein Abitur hätte.
Nach dem Ende des Vertrages mit Samsung musste er gezwungenermaßen in die Selbstständigkeit gehen. Seitdem sind fast 30 Jahre vergangen. Wir sind immer noch hier. Ein Enkelkind kündigt sich nächstes Jahr an und für meinen Vater verblasst die Heimat in ihrer gefühlten Intensität: „All die Jahre dachte ich, meine Familie und mein Zuhause lägen in Vietnam“, sagt er heute. „Die Zeit verfliegt schnell, ich war oft wieder dort und merke nun, dass in Vietnam zwar meine Heimat liegt, aber nicht mehr mein Zuhause. Meine Oma war mein Zuhause. Sie ist in den 1980ern gestorben. Jetzt bin ich hier.“
Wie Onkel P. schon bemerkte, werde ich die Leben dieser Menschen nie in ihrer Gesamtheit verstehen können. All die hier nur angedeuteten biografischen Abzweigungen könnten Bibliotheken mit Geschichten füllen. Die Vietnamesinnen und Vietnamesen in Deutschland waren nicht alle Vertragsarbeiter. Sie kamen auf unterschiedlichsten Wegen und ich denke, es wird Zeit, diese vielfältigen Lebensläufe umfassender zu würdigen.
Autorin: Trần Thu Trang ist Sozial- und Kulturanthropologin und freischaffende Dramaturgin. Seit 2013 ist sie Teil des Berlin Asian Film Network, einer Plattform für asiatisch diasporische Film- und Kunstschaffende. Seit 2017 ist sie ehrenamtliches Vorstandsmitglied im Migrationsrat Berlin e.V. Außerdem ist sie Gründungsmitglied des neuen Vereins Connected Differences, der sich für marginalisierte Gruppen in Medien, Kunst und Kultur engagiert.