Abgesehen von den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte lebten Ende 1989 etwa 190.000 Ausländer in der DDR. Zumeist kamen sie aus sogenannten sozailistischen Bruderländern. Sie kamen als Vertragsarbeiter, Studenten oder Flüchtlinge. Die Webdoku Eigensinn im Bruderland erzählt über das Leben und den Alltag jener Menschen. Von ihrem Weg in die DDR, über ihre Arbeits- und Studienerfahrungen, über Freunde, Freizeit und Liebe, bis zum „Ende der Freundschaft“ 1989/90.
Multimedialität bei Eigensinn im Bruderland
Der Web-Dokumentation gelingt es äußerst gut, die Erzählungen der Protagonist:innen mit Archivmaterial und Medien zu kombinieren. So erzählt Pham Thi Hoai, dass sie die DDR nur durch ein vietnamesisches Kinderlied kannte. Das Lied, in dem sich ein Kind wünscht, Obst in die DDR zu exportieren, findet sich unterhalb des Interviews.
Ein Zeitzeuge berichtet über den Streik von 23 mosambikanischen Vertragsarbeiter:innen. Im März 1982 protestierten Sie gegen eine Lohneinbehaltung im Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb VEB Cottbus. Dieser Erzählung wird der entsprechende MfS-Bericht gegenübergestellt.
Die Multimedialität ist der entscheidende Vorteil des digitalen Formats von Eigensinn im Bruderland gegenüber klassischen Medien. Das Online-Angebot ermöglicht darüber hinaus einen niedrigschwelligen, kostenfreier Zugang. Das kommt dem Ziel der Autorinnen entgegen. Sie wollen eine Öffentlichkeit außerhalb der Wissenschaftswelt erreichen.
Zwei Perspektiven: Alltagserfahrungen und Dokumente
Eigensinn im Bruderland erzählt aus zwei Perspektiven. Zum einen schildern Migrant:innen in Videointerviews ihre Alltagsgerfahrungen. Die zweite Perspektive der Webdokumentation basiert auf Aktenrecherchen. Die Macher:innen der Dokumentation haben in Archiven nach Dokumenten verschiedener Behörden zur DDR-Migrationsgeschichte geforscht.
Die Berichte in den Akten zeugen von Eigensinn und Kampfereitschaft der Vertragsarbeiter:innen. So streikten z.B. vientanmesische Lehrlinge für eine tägliche Reismahlzeit. Mosambikanische Arbeiter:innen weigerten sich, „Sklavenarbeit“ zu leisten. Sie erklärten ihren DDR-Kolleg:innen, dass ihr Verhalten rassistisch sei.
Eigensinn im Bruderland zeigt Protagonist:innen als handelnde Subjekte
Die Webseite zeigt ihre Protagonist:innen als handelnde Subjekte, welche in staatlichen Darstellungen unsichtbar blieben. Das Thema „Eigensinn“ zieht sich durch die Dokumentation. So sind die Berichte über eine Auseinandersetzung mit Betriebskolleg:innen über rassistisches Verhalten eines von vielen Beispielen. Die individuellen Geschichten spiegeln in ihrer Exemplarität viele Erfahrungen von Migrant:innen in der DDR wider.
Die Dokuemtation Eigensinn im Bruderland erzählt migrantische Alltagserfahrungen. Es geht um den Kampf für die Akzeptanz eigener Vorstellungen, um Respekt und Anerkennung. Veranschaulicht wird ein tiefer Graben. Ein Graben zwischen dem ideal internationaler Solidarität und einer in Wirklichkeit geschlossenen Gesellschaft. Migrationsgeschichte der DDR aus dem Blickwinkel der Migrant:innen verschiedener Staatsgruppen. Ihnen zuzuhören lohnt sich!
Auszeichung mit dem Grimme Online Award 2020
Eigensinn im Bruderland ist ein Projekt des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin und out of ficus medienprojekte. Förderung erhielt es aus Mitteln des Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Web-Dokumentation wurde 2020 mit dem Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung ausgezeichnet.