Seit dem 23. März ist “Der vermessene Mensch” in den deutschen Kinos zu sehen. Der neue Film von Regisseur Lars Kraume behandelt die Kolonialverbrechen im heutigen Namibia. Von 1884 bis 1915 war das Land im Süden Afrikas deutsche Kolonie und von 1904 bis 1908 wurden dort zehntausende Angehörige der Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama durch Soldaten des Deutschen Kaiserreichs getötet.
Erstmals im Kino
Lars Kraumes neuer Film ist – es ist kaum zu glauben – der erste Kinofilm über die deutschen Kolonialverbrechen. Diese sind in der Erinnerungskultur in Deutschland bis heute quasi nicht vorhanden. Die Wissenslücken zu den damaligen Geschehnissen und auch deren Auswirkungen bis in die Gegenwart sind in vielen Teilen der Bevölkerung groß, wenn nicht geradezu riesig. Die Macher*innen des Films wollen auf diese aufmerksam machen – und einen Anstoß für Gespräche sowie Diskussionen zum Thema bieten.
Eine weiße Perspektive
Vor allem letztere hat es schon vor dem Kinostart zahlreiche gegeben. Dass der Regisseur ein weißer Deutscher ist und auch der Film durchgängig aus der Perspektive des weißen Ethnologen Alexander Hoffmann erzählt wird, ist für einige Menschen nicht hinnehmbar. Dem kommt es entgegen, dass sich eine kleine Delegation des Films inklusive Regisseur und der Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama, die die Herero Kezia Kunouje Kambazembi spielt, auf eine Deutschlandtour begeben und Preview-Screenings mit anschließenden Gesprächsrunden veranstaltet hat.
Öffentliche Aufmerksamkeit
Bei diesen Begegnungen wurde deutlich, dass das Filmteam die Täter*innen-Perspektive ganz bewusst gewählt hat, eben weil – trotz enger Zusammenarbeit mit namibischen Filmemacher*innen vor Ort – die Perspektive des Films als deutsche Produktion nicht die der Opfer sein kann. In einem Panel anlässlich der Hamburg-Premiere des Films betonte Girley Charlene Jazama, dass dies weiterhin die Aufgabe der Namibianer*innen selbst sei. Der Aktivist Israel Kaunatjike, der ebenfalls bei dem Panel auf dem Podium saß und sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung der Verbrechen engagiert, verspricht sich von dem Film endlich die öffentliche Aufmerksamkeit, die das Thema so dringend benötige. Denn nicht nur medial, auch politisch sei die deutsche Kolonialzeit bislang noch empörend wenig beachtet worden.
Politische Verhandlungen
Während Historiker*innen die Verbrechen schon länger als Völkermord bezeichnen, tut man sich in der Politik damit bis heute schwer. In dem sogenannten Versöhnungsabkommen, zu dem sich die Bundesregierung und Namibia nach fast sechs Jahren Verhandlung im Mai 2021 einigen konnten, bekennt sich Deutschland zur eigenen Verantwortung und verspricht eine Entschuldigung sowie 1,1 Milliarden Euro als Wiedergutmachung durch Entwicklungs- sowie Aufbauhilfen. Doch eine völkerrechtliche Anerkennung der Verbrechen als Völkermord ist in der “Gemeinsamen Erklärung” nicht enthalten. Stattdessen handele es sich um “Gräueltaten, die aus heutiger Sicht als Völkermord bezeichnet werden” – eine schwammige Formulierung, die gleichzeitig auch keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigungen oder Reparationszahlungen möglich macht.
Widerstand gegen das Abkommen
Das Abkommen stößt bei vielen Vertreter*innen der Herero und Nama sowie der Opposition in Namibia auf Widerstand. Auch Israel Kaunatjike spricht sich bei der Panel-Diskussion in Hamburg entschlossen dagegen aus. Das Abkommen sei nicht akzeptabel und hinnehmbar. Verschiedene Opfergruppen seien bei den Verhandlungen nicht anwesend gewesen, die offizielle Anerkennung der Verbrechen als Völkermord sowie Reparationszahlungen an die Nachkommen der Betroffenen unabdingbar.
Der Kampf geht weiter
Die Regierung Namibias hat das Abkommen bislang nicht unterzeichnet, in der zweiten Jahreshälfte 2022 forderte das südafrikanische Land eine Ergänzung des Abkommens. Im Januar 2023 klagten der Oppositionspolitiker Bernadus Swartbooi und Nachfahren der betroffenen Herero und Nama vor Namibias oberstem Gerichtshof gegen die Erklärung, weil sie ohne Zustimmung des Parlaments zustande gekommen sei und keine direkten Entschädigungen für die Nachfahren der Opfer enthalte. Und Anfang März 2023 stellte im Bundestag die Fraktion Die Linke eine Kleine Anfrage über den Verbleib des Versöhnungsabkommens sowie eventuelle Nach- bzw. Neuverhandlungen.
Eine Anfrage, die das Abkommen und damit auch die deutschen Kolonialverbrechen wieder auf die Tagesordnung holte – passend zum Kinostart von “Der vermessene Mensch”. Der Kampf um die Einbindung dieses Völkermords in die deutsche Erinnerungskultur, um die Wiedergutmachung sowie Reparationszahlungen für die Nachkommen der Betroffenen geht weiter. Hoffentlich kann der Film einen Beitrag dazu leisten.
Wer mehr über die Figuren aus dem Film und deren Kampf gegen die Kolonialherrschaft wissen möchte: Wer war Friedrich Maharero?
Titelfoto: Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) und Kezia Kunouje Kambazembi (Girley Charlene Jazama) in einer Filmszene von "Der vermessene Mensch"