Am 9. September 2015 floh die damals 18jährige Sara aus Syrien und kam am 2. Oktober 2015 in Berlin an. Im Frühjahr diesen Jahres beendete sie ihr Medizinstudium. Über ihre Flucht, das Leben in Deutschland und ihre Erfahrungen als Ärztin sprach Antonia Kennel mit ihr.

Sara[1], erzähl mir, wie du nach Deutschland gekommen bist.

Es war in 2014, als sich in Syrien die Lage für die Bevölkerung verschärfte. Ich war damals gerade 18 und habe mein Abitur gemacht. Mein älterer Bruder Tarek hatte angefangen zu studieren, als er verhaftet wurde. Einer seiner Freunde hatte auf Facebook Sachen gepostet, die dem Regime missfielen, und war daraufhin verhaftet worden. Da Tarek mit ihm auch auf Facebook befreundet war, haben sie ihn auch eingesperrt. Mithilfe eines Onkels von mir, der genügend Geld freistellen konnte, konnten wir Tarek freikaufen. Danach wollte Tarek Syrien verlassen. Meine Eltern sahen ebenfalls keine Zukunft für uns mehr hier und stimmten zu. Wir lebten damals in Homs, ca. 180km von Damaskus entfernt. Wir wollten nach Europa.

Warum Europa? Bzw. warum Deutschland?

Europa war geographisch erreichbar und gewährte Geflüchteten Asylschutz. Deutschland stand auf der Liste der wirtschaftlich bessergestellten Länder. Auch Schweden, Norwegen, Österreich, die Schweiz, Frankreich und die Niederland kamen infrage – wobei Schweden und Norwegen nicht favorisiert wurden von uns, wegen des Klimas. In Deutschland aber waren auch schon einige Cousins und Cousinen von uns, sodass es unser primäres Anlaufziel wurde.  

Wie läuft so eine Flucht ab?

Im März 2015 war es so weit und Mama und mein Bruder machten sich gemeinsam auf den Weg.

Mein Vater, meine kleine Schwester Hiba und ich sollten noch bleiben: sollte es nicht klappen, hätte Papa immer noch seinen Job, um uns irgendwie über Wasser zu halten.

Dann kam die Nachricht, dass eine Familienzusammenführung nicht mehr möglich war: da ich gerade 18 geworden und damit volljährig war, konnte Mama mich nicht einfach nach Berlin nachholen. Für mich mussten wir andere Wege gehen … Das Problem war nur, dass es für Syrer ohne Visum oder Geld quasi keine legale Möglichkeit gab, aus Syrien auszureisen. Also mussten wir irgendwie Geld zusammenkratzen, um Schmuggler zu bezahlen. Der Schmuggler, der meine Mutter und Tarek nach Deutschland gebracht hatte, war später auch für meine Route zuständig.

Von welchen Zeiträumen sprechen wir?

Mama und Tarek verließen Syrien im März 2015 und kamen Mai 2015 nach Berlin. Ich startete am 09.09.2015 und war am 02.10.2015 in Berlin. Papa und Hiba kamen ein Jahr später, am 09.09.2016, zu uns.

Was waren die Stationen deines Weges?

Von Homs reiste ich, zusammen mit Hassan, einem 10 Jahre älteren Cousin, der auf mich achten sollte, mit dem Bus nach Tartus, von Tartus weiter nach Beirut. In Beirut bestiegen wir ein Flugzeug, das uns nach Izmir brachte. Dort wurden Hassan und ich getrennt, weil wir auf verschiedene Busse aufgeteilt wurden. In denen fuhren wir bis an die Küste, nach Marmaris. Dort ging das Schauspiel los: mit einer Gruppe von Flüchtlingen bestieg ich ein Boot. Es war eine richtige Yacht. Wir zahlten 4.800€ pro Person, damit die Schmuggler uns nach Rhodos übersetzten. Die Yacht fuhr die nächsten paar Stunden verschiedene Stationen an, ganz so, als wären wir Touristen, die sich von Hafen zu Hafen fahren ließen. Eigentlich war es bis Rhodos nur eine Wegstrecke von einer halben Stunde, aber so wirkte es echter. In Rhodos mussten wir einige Tage in einem Camp bleiben. Das war ein ehemaliger Schlachthof. Es war nicht gut in dem Lager … sie haben uns z.B. die Handys verboten, ich konnte es nur heimlich nachts unter der Decke benutzen, um ein bisschen mit meinem Bruder zu texten … Ich war so fertig mit der Welt! Ich war so tief traurig und wütend und wollte nur schlafen. „Wegschlafen“ wollte ich alles. In dem Lager bekamen wir irgendein Schriftstück, ein Stück Papier als „Aufenthaltsgenehmigung“. Nach ein paar Tagen im Camp fuhren wir mit einer Fähre in knapp 20h nach Athen, wo wir einen Bus bestiegen, der uns bis an die mazedonische Grenze brachte. Dort wurden wir wie Tiere in Waggons gestopft: pro Person kriegten die Schmuggler 5€. Ich weiß nicht genau, wo es war, als wir schließlich irgendwann rausgeworfen wurden. Jedenfalls mussten wir von dort aus laufen, Richtung Serbien. Irgendeiner wusste, in welche Richtung man gehen musste. Von Serbien weiter nach Kroatien, Ungarn, bis nach Österreich. Das dauerte insgesamt drei Tage. In Kroatien waren die Leute ganz lieb und super organisiert, haben uns streckenweise mit Zügen fahren lassen, in denen es sogar Abteile extra für Frauen und Kinder gab. Das ist mir in Erinnerung geblieben.

Wie habt ihr euch eigentlich verpflegt? Habt ihr zwischendurch zu essen bekommen?

Ja, aber meistens haben wir uns einfach selbst Essen gekauft.

Wie ging es weiter?

An der österreichischen Grenze nahmen ich und ein Teil meiner Gruppe ein Taxi bis zum Wiener Hauptbahnhof, von dort wollten wir mit dem Zug weiter nach München. Wir zahlten das alles privat. Es gab auch organisierte Zugfahrten nach Passau, die uns Geflüchtete nichts kosteten, aber dazu hätte ich noch länger warten müssen, aber ich konnte nicht länger warten, ich wollte unbedingt nach Berlin zu Mama und Tarek. Außerdem wusste ich, dass mich die Leute in Passau dann einfach irgendwohin in Deutschland schicken würden, nicht unbedingt nach Berlin. In Wien blieben drei von uns noch eine Nacht bei einer Familie, die einer aus der Gruppe kannte. Wir bekamen ein Bett, Essen, konnten duschen … Auf der Fahrt nach München am nächsten Tag kam es zu stichprobenartigen Passkontrollen, sie wollten Geflüchtete ausfindig machen. Ein Teil meiner Gruppe musste, da sie keine Papiere vorweisen konnten, den Zug verlassen. Ich hatte großes Glück, weil ich zu dem Zeitpunkt nicht bei der Gruppe saß.

Warum nicht?

Ich wollte nicht auf Arabisch sprechen müssen. Die Leute in der Gruppe konnten kein Englisch – ich hatte z.B. auch ihre Tickets auf Englisch gebucht – und ich wusste, dass es auffallen würde, wenn wir uns auf Arabisch unterhalten würden. Ich habe auch den Vorteil, dass ich kein Kopftuch trage und meine Haut und Haare heller sind, ich falle nicht sofort als typische Araberin auf.

Verstehe …

In München buchte ich sofort ein Ticket nach Berlin. Bei der Buchung des Tickets half mir zum Glück ein junger Deutscher, da ich mit dem Ticketautomaten nicht umgehen konnte. Wir sprachen Englisch und ich habe mich als Spanierin ausgegeben, ich wollte nicht sagen, dass ich aus Syrien kam. Mir war damals nicht klar, dass so viele Deutsche Spanisch können … aber es ging alles gut, er konnte es zum Glück anscheinend nicht oder nicht gut genug, jedenfalls fragte er nicht weiter. Außerdem erklärte er mir noch, dass ich in Nürnberg umsteigen musste – das hätte ich nicht gewusst, ich kannte diese Art von Zugwechsel nicht. Aber so ging alles gut, irgendwann stand ich am Berliner Hauptbahnhof, wo mein Bruder schon auf mich wartete.

Diese Reise all die Unsicherheiten, Beschwerlichkeiten, Gefahren – wie hast du das alles ausgehalten, Sara? Was hat dir geholfen?

Geholfen hat mir mein Handy, meine Kopfhörer. Und die Gruppe, die ich unterwegs kennenlernte. Und dass ich es einfach schaffen musste, es gab kein Zurück. Es musste einfach klappen! Ich habe viel Musik gehört und auf dem Handy Tagebuch geschrieben. Später, in Deutschland, hab ich das dann auf Papier übertragen. Irgendwie ging alles sehr schnell. Viel Adrenalin …

In Berlin wolltest du Medizin studieren. Wie kam es dazu?

Ich habe in Syrien schon zwei Semester Medizin studiert. Mein Onkel – der, der uns auch geholfen hatte, als Tarek im Gefängnis saß – war Kardiologe. Er war immer sehr nett und witzig, und wenn Leute kein Geld hatten, behandelte er sie für umsonst. In der Schule hatte ich gute Noten und mochte Fächer wie Biologie. Und Menschen zu helfen, egal wie, fand ich immer schon gut.

Musstest du spezielle Tests machen, um immatrikuliert zu werden?

Nein. In meinem Fall ging das rein über die Ausländerquote der Uni.

April 2017 begann dein Studium. Was hat dir am deutschen Studentenleben gefallen? Wie war es im Vergleich zu dem in Syrien?

Ich mochte es hier. Die Qualität des Studentenlebens war viel besser als in Damaskus. Ein Unterschied war z.B. die Bibliothek: immer gab es Bücher! Die man auch noch am richtigen Platz im richtigen Regal finden konnte! Und man bekam immer einen Sitzplatz dort! In Damaskus gab es auch keine Mensa. Und Programme wie Bafög sowieso nicht.

Ist dir etwas schwerer gefallen als daheim?

Hm … ja: der Zugang zu Gleichaltrigen. Den hab ich nicht gekriegt irgendwie. Nicht, dass Gleichaltrige nicht lieb gewesen wären, und ich würde nicht sagen, dass ich rassistisch behandelt wurde an der Uni. Trotzdem, meine Freunde waren eher Ältere. Vielleicht hing das mit den Erfahrungen zusammen, die hinter mir lagen …

Gab es irgendwelche Überraschungen, mit denen du nicht gerechnet hättest?

Die Sprache! Die fiel mir im Alltag doch schwieriger, als ich angenommen hatte. Von ungefähr November 2015 bis Ende 2016 hatte ich Sprachkurse besucht, aber das Sprechen war etwas ganz Anderes. Und das Alleinewohnen, ich lebte die ersten Semester bei einer deutschen Gastfamilie in Charlottenburg-Wilmersdorf. Damit hatte ich noch keine Erfahrungen gemacht, es fiel mir nicht leicht.

Wer oder was hat dir geholfen?

Dass ich schnell Freunde gefunden habe an der Uni. Die, die ich in den ersten Wochen kennengelernt habe, mit denen bin ich jetzt noch eng befreundet. Und meine Gastfamilie hat mich auch sehr unterstützt.

Wenn du das deutsche Medizinsystem mit dem in Syrien vergleichst, woran denkst du? Wie erlebst du es auch als Patient hier? Empfindest du Unterschiede in der Behandlung, dem Umgang mit dir?

In Syrien zahlst du direkt für Leistungen. Nicht für alle, aber wenn du z.B. etwas außer der Reihe oder schneller oder zusätzlich brauchst. Und bei manchen Ärzten, z.B. beim Gynäkologen, zahlst du auch alles direkt selbst. Es gibt Versicherungen, aber nur für bestimmte Gruppen, Beamte z.B.

Als Patient empfinde ich keine Unterschiede, nein. Oft bin ich Dolmetscher für Verwandte oder Bekannte, aber auch da erlebe ich keine unterschiedliche Behandlung.

Und aus deiner Perspektive als Medizinerin?

Natürlich ist es prima, dass ich arabischen Patienten auf Arabisch helfen kann. Das macht mich auch sehr froh. Araber freuen sich immer für mich, also, dass es einer von ihnen geschafft hat, in Deutschland gut Fuß zu fassen. Und ich erlebe sie immer als sehr dankbar. Gerade die Sprache vereinfacht die Dinge nun mal. Ich habe schon das Gefühl, dass ausländische Patienten sich weniger schnell beschweren und insgesamt dankbarer sind.

Weil sie sich nicht trauen, sich sofort zu beschweren?

Ich glaube schon, ja.

Nun bist du eine arabisch sprechende Ärztin in Berlin – was ist dein Plan, dein Ziel?

Mein Ziel ist noch nicht 100% klar. Auch im deutschen Gesundheitssystem gibt es viele Probleme. Ich will das auf Dauer nicht unterstützen, weiß aber auch noch nicht, wie das gehen soll. Irgendwann will ich auf jeden Fall bei Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Dafür braucht man aber seinen Facharzt und viel Erfahrung. Prinzipiell möchte ich anderen arabisch sprechenden Menschen den Gang zum Arzt erleichtern. Und auch ein Anreiz sein gerade für Mädchen aus anderen Ländern – dass sie es schaffen können, hier zu studieren und einen guten Job zu finden.

Was wünschst du dir für die Arzt-Patienten-Beziehung in der Zukunft?

Mehr Zeit! Beide Seiten brauchen mehr Zeit zum Erzählen und Erklären. Und: es muss unbedingt mehr Dolmetscher geben! Mit einem guten Dolmetscher ist die Qualität der Betreuung viel besser, bzw. erst richtig möglich. 

Willst du in Deutschland bleiben?

Ja. Gerne.

Liebe Sara, ich danke dir für das Gespräch!

[1] Die Namen der Personen wurden auf Wunsch der Interviewpartnerin geändert.

Titelbild: Weltkarte / Syrien. Bild von 652234 auf Pixabay

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Über den Autor

Antonia Kennel

... ist Schauspielerin, Hypnotherapeutin, NLP-Trainerin und Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bayerisch-Schwaben. In ihrer Freizeit schreibt sie für verschiedene Magazine.

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