Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir fast nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.
Zuwanderungsgeschichten
Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. So warb beispielsweise der ortsansässige Konzern VW schon in den 1960er Jahren um „Gastarbeiter“.
Die Spuren, die diese Geschichten hinterlassen haben, spiegeln sich in den Gegenständen, die die Menschen aus ihrer Heimat mitbrachten. Ihnen widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.
Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.
Bosnien: Die Spindel – Vera G. erinnert sich
Ich bin katholisch erzogen als Tochter einer Polin und eines Deutschen im Dorf Nova Topola groß geworden, das zwischen Gradiška und Banja Luka im heutigen Bosnien Herzegowina nahe der Grenze zu Kroatien liegt.
Es ist einst, nachdem Bosnien im 19. Jahrhundert Teil des Habsburger Reiches wurde, durch deutsche Siedler unter dem Namen Windthorst gegründet worden. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte das nun in Nova Topola umbenannte Dorf zum Königreich Jugoslawien, im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg wiederum zur Förderativen Volksrepublik Jugoslawien, die 1963 zur Sozialistischen Förderativen Volksrepublik Jugoslawien wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten viele der dort lebenden Deutschen auswandern. Mein Vater aber ist geblieben. Er hatte als Baumeister gearbeitet und war auch unter den Muslimen und den serbisch-orthodoxen Dorfbewohnern sehr beliebt. Sie schützten ihn nach dem Krieg.
Als dann alle Deutschen nach Kriegsende aus Jugoslawien vertrieben werden sollten, hätten wir nach Polen gehen können, da meine Mutter ja Polin war, aber mein Vater entschied anders: Er sagte, er bleibe wo er sei und wenn er deswegen sterben müsse, so würde er wenigstens in seinem Haus sterben.
Mit meinen Eltern sind vielleicht noch sechs oder sieben andere Deutsche geblieben. Mein Vater und meine Muttter sind dann tatsächlich viele Jahre später dort verstorben. Ich bin 1965 nach Deutschland gegangen und habe ein Jahr später meine Kinder nachgeholt.
Erinnerungen an die Gemeinschaft
Die Spindel erinnert mich an die Jahre, die ich in Nova Topola verbracht habe. Denn anfangs konnte ich gar nicht spinnen. Doch wir hatten einen Nachbarn, der sehr begabt in der Handarbeit war. Wenn wir abends mit den muslimischen und orthodoxen Mädchen und Frauen zusammensaßen, haben wir immer viel miteinander geredet und dabei Handarbeiten gemacht.
Der Nachbar kam, obgleich er damals sehr krank war, er litt an Tuberkulose, auch jedes Mal dazu und hat uns vieles beigebracht, darunter ganz besondere Sachen mit Seide. Wir haben aber auch Pullover gestrickt oder Tischdecken genäht. Ich habe ja dann auch eine Ausbildung als Schneiderin begonnen.
Wir Frauen haben viel von ihm gelernt. Wir waren alle so freundlich zueinander – bis dann viele Jahre später, als ich längst schon nicht mehr in Nova Topola lebte, 1991 die Jugoslawienkriege ausbrachen. Die Menschen, die dort noch heute leben, sind für mich die gleichen geblieben – auch nach dem Krieg. Die Spindel erinnert mich an unser Zusammensein.
Die Verfasser
Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.
Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto der „Spindel“ nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.