Migrationsgeschichte erfahrbar machen – dieses Ziel hat ein Audiotour-Projekt der Volkshochschulen Aachen, Stolberg und Nordkreis Aachen in die Tat umgesetzt.
Seit Ende 2023 können sich Interessierte mit Smartphone und Fahrrad auf den Weg machen, um in Aachen und Umgebung mehr über Geschichten des Weggehens, Ankommens und Bleibens zu erfahren. Im Rahmen dreier Audiotouren vermitteln insgesamt 32 Hörstationen ganz unterschiedliche Eindrücke von der regionalen Zeithistorie der Migration: Von bekannten und weniger bekannten Kämpfen um Selbstbestimmung und gegen Rassismus ist darin ebenso die Rede wie von Arbeit und Alltagsleben. Vielschichtigkeit und Omnipräsenz von Migrationsgeschichte werden auf diese Weise – so zumindest die Hoffnung des Projektteams – ganz praktisch „erfahrbar“.
Euregionale und transnationale Horizonte
Reif genug dafür ist die Zeit: Immerhin erscheint die Dreiländerregion um Aachen Mitte der 2020er Jahre europäischer und internationaler denn je. Hiesige Hochschulen und Forschungseinrichtungen ziehen Studierende und Wissenschaftler*innen aus aller Welt an (gegenwärtig halten sich nicht weniger als 5.000 junge Inder*innen und Chines*innen zum Studium in Aachen auf), es gibt enge euregionale Verbindungen zu den niederländischen und belgischen Nachbarprovinzen und nicht zuletzt haben auch globale Bewegungen der Fluchtmigration den Alltag und das Selbstverständnis der gesamten Städteregion verändert. Mit Einrichtungen wie dem „International Office“ der RWTH pflegt nicht nur der Hochschulstandort sein internationales Image, Einrichtungen wie das Kommunale Integrationszentren bemühen sich auch ganz praktisch um die interkulturelle Öffnung der Stadtgesellschaft.
Migration als „Mutter aller Gesellschaften“
Ohnedies prägt Migration Aachen ja nicht erst in jüngster Zeit. Mit Blick auf die kleinräumigen Wanderungsbewegungen von Textilarbeiter*innen bezeichnete ein 2008 veröffentlichtes Buch des Landschaftsverbands Rheinland die Tuchregion zwischen Monschau, Verviers, Eupen und Aachen schon für die Zeit um 1800 als „Gesellschaft von Migranten“.[i] Und selbstverständlich kamen Menschen bereits in römischer Zeit von weit her nach Aachen – und seit den Karolingern nicht zuletzt aus Anlass zahlreicher königlicher Krönungszeremonien. Für die Gründung und Entwicklung der Städteregion wie für säkulare Urbanisierungsprozesse allgemein war Migration demnach dermaßen zentral, dass sie schlichtweg als „Mutter aller Gesellschaften“ angesprochen werden muss.
Fokus: Zeitgeschichte der Migration
Nicht nur aus Zeitgründen hat sich das vom NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft zehn Monate lang geförderte Projekt „Migrationsgeschichte erfahren – Auf Audiotour durch Aachen, Stolberg und den Nordkreis“ allerdings auf Aspekte aus der regionalen Zeitgeschichte der Migration beschränkt. Immerhin stand und steht für diese Epoche bereits eine Reihe wertvoller Vorarbeiten und Forschungsergebnisse zur Verfügung. So ist in Zusammenhang mit der 2011 gezeigten vhs-Ausstellung „Bewegung. Migration in Aachen seit 1945“ beispielsweise der hervorragende Überblicksartikel „Deine Stadt in Bewegung. Mit einer Ausstellung Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte erzählen“ entstanden. Zudem verfügen die beteiligten Volkshochschulen für diesen Zeitraum auch über relevante eigene Erfahrungen als Akteure in der Migrationsgesellschaft.
Migrationsgeschichte als Citizen Science
Ein wichtiges Anliegen des Audiotour-Projekts war es, migrantische Stimmen und Perspektiven selbst zu Wort kommen zu lassen – und zwar nicht nur in den Hörstücken selbst, sondern bereits in deren Entstehungsprozess. Mehrere Workshops boten Migrantenorganisationen, Gewerkschaftsgliederungen und Kulturvereinen, aber auch Geschichtswerkstätten und Archiven deshalb die Möglichkeit, eigene Vorschläge für Stationen, Themen und mögliche Interviewpartner*innen zu unterbreiten. Dank einer erfreulich regen Beteiligung an diesem Findungs- und Forschungsprozess – Fachleute würden so etwas vielleicht „Citizen Science“ nennen – verdankt sich immerhin ein Drittel aller Hörstationen und zu Wort kommenden Zeitzeug*innen den Vorschlägen bzw. der Vermittlung zivilgesellschaftlicher Initiativen. Erinnerungen der nach Baesweiler-Setterich übergesiedelten Siebenbürger Sachsen gehören ebenso dazu wie Arbeitserfahrungen sogenannter Gastarbeiterinnen in der Stolberger Großindustrie.
Recherchen auf unkonventionellen Wegen
Mit der Erarbeitung sendefähiger Manuskripte wurden professionelle Hörfunkjournalist*innen beauftragt, die jeweils über eine ausgewiesene Expertise im Themenfeld „Migrationsgeschichte“ verfügen. Mirjam Baumert, Sonja Ernst und Melih Serter haben sich bei ihren Recherchen zum Teil auf bereits publizierte Forschungsergebnisse und Medienberichterstattung gestützt, darüber hinaus in Archiven oder im Gespräch mit Zeitzeug*innen aber auch eigene Nachforschungen angestellt. Dank dieses großen Engagements können bemerkenswerte Reportagen wie die über die Aachener Literaturzeitschrift „Fremdworte“, über den rassistischen Brandanschlag auf ein von einer libanesischen Familie in Herzogenrath-Kohlscheid bewohntes Haus im Jahr 1993 oder über das ehemalige Zwangsarbeiterlager in Alsdorf-Neuweiler nunmehr einer breiteren Öffentlichkeit zu Gehör gebracht werden.
Orte der Migrationsgeschichte im Raum Aachen und Stationen der Audiotouren: Großindustrie in Stolberg (li.); Bergbaumuseum Energeticon in Alsdorf (re.); Fotos: Björn Hoffmann
Auf Lauschtour zu wenig bekannten Orten
Die von den ping Tonstudios in Köln professionell vertonten Hörstücke stehen der Öffentlichkeit über die für solche Zwecke sehr gut geeignete App Guidemate kostenlos zur Verfügung – und das für einen Zeitraum von zunächst einmal immerhin zehn Jahren! Interessierte können sich also per App und Fahrrad selbständig, ökologisch minimalinvasiv sowie nach individueller Lust und Laune auf migrationsgeschichtliche Spurensuche durch die Städteregion Aachen begeben. Aber natürlich können die Audiotouren auch bequem auf dem heimischen Sofa oder einem beliebigen anderen geeigneten Ort angehört werden – immerhin sind Volkshochschulen ja Bildungseinrichtungen und als solche weder Sportvereine noch Geländespielausrichter! Trotzdem erschließen die Touren als solche die Region aber nochmal von einer ganz besonderen Seite.
Audiotouren. Regionalgeschichte der Migration kann sich hören lassen
Und auch wenn exemplarische Audiotouren etwas völlig anderes sind als eine wissenschaftliche Überblicksdarstellung: Nicht von ungefähr spiegeln sich in den Tonspuren die großen Themen der jüngeren deutschen Migrationsgeschichte wider: Das durch Verfolgung und Zwangsarbeit verursachte Leid während der Nazizeit bringen sie genauso zur Sprache wie mit Arbeits-, Flucht- oder Bildungsmigrationen unserer Tage verbundene Erfahrungen. Regionale Spezifika kommen bei alledem aber keineswegs zu kurz: Die Grenznähe in einer Dreiländerregion, die erst in den 1990er Jahren abgebrochene Tradition des stark migrantisch geprägten Steinkohlenbergbaus und nicht zuletzt die in jüngster Zeit stark gestiegenen Zahlen von Bildungsmigrant*innen. Wer sich auf die migrationsgeschichtlichen Audiotouren durch die Städteregion begibt, der oder die macht unweigerlich die Erfahrung: Der migrantische Anteil an ihrer Geschichte kann sich wirklich hören lassen!
Alle drei Audiotouren mit Karte, Infos und Fotos können unter Volkshochschule Aachen bei guidemate angehört und angesehen werden. Wer die App herunterlädt, kann Audio, Karte und Infos auch offline nutzen.
[i] Landschaftsverband Rheinland. Rheinische Archivberatung – Fortbildungszentrum Brauweiler (Hrsg.): Eine Gesellschaft von Migranten. Kleinräumige Wanderung und Integration von Textilarbeitern im belgisch-niederländisch-deutschen Grenzraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2008.
Wer noch mehr über Audiotoren zur lokalen Migrationsgeschichte erfahren möchte, der findet in unserer Publikation Auf den Spuren von Migration in Wolfsburg weiterführende Hinweise.