Liebe Gülperi,
es sind nun schon mindestens 35 Jahre, die wir uns kennen. In unseren Kindertagen waren wir gefühlt unzertrennlich. Zumindest bist du für mich, denke ich an meine Grundschulzeit zurück, eine der wichtigsten Personen überhaupt. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich gemacht hätte! Nach dem verehrenden Erdbeben in der Türkei vor einem Monat und auch im Herbst 2021, zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, musste ich viel über unsere Freundschaft und dich nachdenken. Denn vielleicht wärst du ohne dieses Abkommen gar nicht Teil meines Lebens geworden.
Schule war für mich, vor allem in den ersten Jahren, kein einfaches Kapitel …
… Ich habe mich so schwergetan und war oft einfach überfordert. Sicherlich lag dies auch an unseren Lehrerinnen, die vielleicht nicht alle die pädagogisch geschicktesten waren; zumindest wenn es um mich und meine Lese-Rechtschreibschwäche ging. Ich fühlte mich oft allein. Viele der anderen Kinder kannten sich schon aus Kindertagen oder besser aus Kinderladentagen. Es waren eingeschworene Gruppen. Ich gehörte nicht dazu.
Doch dann warst du einfach da! Du hast mich einfach akzeptiert, wie ich war. Und war ich mal wieder überfordert und war impulsiv aus der Klasse gerannt und habe lieber auf dem Schulflur gewartet bis meine Mutter mich abholen kam, warst du dennoch danach meine Spielpartnerin in den Pausen. Und du bist weiterhin gemeinsam mit mir nach Hause gelaufen. Bestimmt hast du dich über meine Sonderlichkeiten auch mal gewundert und dich gefragt, was so in mir vorgeht, aber du hast es mich nie spüren lassen.
Du warst eine so gute und fleißige Schülerin …
… und ich weiß noch, wie sehr ich dich beneidet habe. Ich war felsenfest davon überzeugt, dir fliegt das alles zu! Dass das bei Weitem nicht immer alles so einfach für dich war, habe ich auch erst später begriffen. Neulich schriebst du mir: „Du und deine Mutter, ihr wart auch so wichtig und prägend für uns. Deine Mutter hat so viel, insbesondere für meine Mutter getan und ihr viel ermöglicht. Sie hatte nie Berührungsängste und war auch nie ‚von oben herab‘. … Bei euch habe ich den ersten richtigen Einblick bekommen, wie es bei ‚deutschen‘ Familien eigentlich so ist.“ Dass wir beide so unterschiedliche Hintergründe hatten, deine Eltern aus der Türkei, meine aus Deutschland, du muslimisch und ich für Berliner Verhältnisse sehr christlich, deine Familie mit weniger finanziellen Möglichkeiten, meine mehr als finanziell bessergestellt, hat in unserem Alltag nie eine Rolle gespielt. Der Background hat einfach keine Rolle gespielt. Was zählte, war unsere Freundschaft.
Ich weiß nur, wenn deine Eltern nicht den Weg nach Deutschland eingeschlagen hätten, …
… dann hätte mir ganz sicher etwas sehr Wichtiges und Wertvolles gefehlt. Etwas, dass mich auch zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin: Meine beste Freundin in Kindertagen – mit der ich aufregende Dinge erleben durfte. Weißt du noch, als bei meiner Mutter im Laden eingebrochen wurde und wir die Sommerferien dann vor Ort waren und alles so unglaublich aufregend fanden? Ich glaube, unsere Mütter nicht so. Aber ich weiß noch, wie wir das Erlebte in unsere kakifarbenen „Was habe ich in den Sommerferien erlebt?“-Hefte schrieben und beide einen Räuber malten, mit dickem Beutesack auf dem Rücken und einem schwarz-weiß gestreiften Oberteil und Augenmaske – wie die Panzerknacker. Wir saßen an der Lottoscheine-Ausfüll-Theke und waren vertieft in unsere Aufgaben, als ein Sommergewitter losbrach, mit tennisballgroßen Hagelkörnern. Und binnen Sekunden sah alles aus wie „Reis mit Petersilie“.
Ich wünsche unseren Kindern von Herzen, dass auch Sie solche eine Freundschaft erleben dürfen und so tolle Menschen treffen, die ihr Leben so nachhaltig prägen – ganz unabhängig von ihren Hintergründen.
Deine Lari
Titelfoto: AnnieSpratt auf Pixabay, Foto gemeinfrei
Ich kann keine „Reis mit Petersilie“-Geschichte schreiben, aber ich war ein halbes „Flüchtlingskind“, 1952 geboren, in anfangs sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen,die sich in mein kleines Kinderhirn förmlich eingebrannt und mich sehr geprägt haben.
Erst im hohen Alter haben meine Tanten von der Flucht erzählt.Mein Vater war blutjunger Berufssoldat in der Nazizeit. Schon 1941 verlor er in Russland ein Bein.Er hat nie über seine grausamen Erlebnisse berichtet, aber hat mich gemeinsam mit meiner Mutter zu einer kritischen sozialen Bürgerin erzogen. Sie sind uns und unseren Kindern mit viel Liebe begegnet und haben anderen, denen es noch schlechter ging geholfen.
Obwohl er nie darüber gesprochen hat, hat er mit den Nazis gebrochen. Aus alten Briefen an die Versorgungsbehörden für Kriegsopfer wird deutlich, wie wütend er über die Begünstigung führender alter Nazis war, die wieder ganz schnell zu Ruhm und Ehre im neuen System kamen,während er Anträge auf Essensgeld für mich und meine Schwester stellen musste. Dabei ging es um einen Betrag von umgerechnet 2 Euro om Monat.
Ich selbst habe noch im Gymnasium meine „Unterpriviligiertheit“ zu spüren bekommen. Im Prinzip war ich ein Fremdkörper im System, der es nur durch Fleiß, aber nicht aufgrund der Intelligenz zu diesem Aufstieg gebracht hatte.
Ich bin Grund- und Hauptschullehrerin und Diplompägagogin geworden, um mich ganz unten für mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit einzusetzen. Auch nach 50 Jahren gewerkschaftlicher Arbeit sind wir davon noch weit entfernt und das überall auf der Welt.
ABER DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT
Übrigens esse ich sehr gern Reis und Petersilie, verfeinert mit Mandeln oder Nüssen.
So schließt sich der Kreis.
Liebe Frau Seehausen,
vielen Dank, dass Sie mit uns Ihre Erinnerungen und Erfahrungen geteilt haben! Ihre persönlichen Erfahrungen haben Sie geprägt und waren Grundlage Ihres späteren Handelns. Sie haben mit Ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten in die Gesellschaft gewirkt. Das ist großartig!
Wir hoffen, dass wir mit diesem Blog und unserer bundesweiten Arbeit von GEGEN VERGESSEN – FÜR DEMOKRATIE e.V. ebenfalls zur Stärkung einer Demokratie in Vielfalt beitragen können.
Alles Gute und viel Kraft für Ihre Arbeit vor Ort!
SEITEN:BLICK