Der Schriftsteller Rafik Schami wird vor allem für seine humorvolle Erzählkunst verehrt, mit der er den Menschen im Publikum wie kaum ein anderer ein seliges Lächeln auf das Gesicht zaubern kann. Ein schönes Beispiel dafür gibt es hier zu sehen. In krassem Gegensatz dazu hat er aber immer wieder auch nüchtern und schonungslos über die grausame Diktatur des al-Assad-Clans in seinem Herkunftsland Syrien geschrieben – etwa in dem 1000-Seiten-Roman „Die dunkle Seite der Liebe“. Dieses Schreiben bezahlt Rafik Schami damit, dass ihm seit Jahrzehnten die Einreise nach Syrien verwehrt wird, seine Bücher dort verboten sind.
Gerichtet an die „Gleichgültigen“
Nun hat der Träger des Preises Gegen Vergessen – Für Demokratie einen Essay „Gegen die Gleichgültigkeit“ verfasst, der Deutschland und „den Westen“ in den Blick nimmt und ebenfalls zwei Seiten hat. Er beginnt aus sehr persönlicher Perspektive mit einer anklagenden Gesellschaftskritik, um später in verändertem Tonfall einen Aufruf und zugleich eine Art Anleitung zu gesellschaftlichem Engagement zu entwerfen. Seine Hauptadressaten in beiden Punkten sind die (bislang) „Gleichgültigen“.
Erinnert an Max Brod
Beim Lesen über diese Gleichgültigen habe ich mich an den Prager Schriftsteller Max Brod erinnert, der heute vor allem als Freund und Nachlassverwalter von Franz Kafka bekannt ist. In seinem 1908 erschienen Roman „Schloss Nornepygge“ hatte Brod versucht, so etwas wie eine Philosophie des Indifferentismus zu etablieren. Motto: Wir können ohnehin nichts am Zeitenlauf ändern, also bleiben wir in passiver Distanz zu allem, was geschieht.
Erst die Gleichgültigen ermöglichen die Diktatur
Genau gegen eine solche Haltung schreibt Rafik Schami mit Leidenschaft an. Aus seiner Sicht werden die Gleichgültigen massiv unterschätzt. Denn es sei erst ihr Nichtstun, das feindseliges Handeln und den Sieg von Diktatoren ermögliche.
Rafik Schami legt Wert auf eine sachliche, fundierte Herleitung seiner Argumente, wofür er sich offensichtlich nicht zu schade war, auch die Texte von neurechten Autoren intensiv zu studieren. Dennoch spürt man zwischen den Zeilen des Essays Wut und Enttäuschung durchschimmern. Hervorgerufen etwa durch die gleichgültige Untätigkeit, mit der die Weltgemeinschaft dem schrecklichen Krieg in Syrien zugeschaut hat. Aber auch durch das allzu bereitwillig offerierte Podium, das neurechte Ideologen und Rassisten in Deutschland heute für sich nutzen können.
„Schleichender Rassismus“ in den Medien
Die gesellschaftlichen Klimaveränderungen hat Rafik Schami auch persönlich zu spüren bekommen. Zum Beispiel, als sein Erzählstil in einer Buchkritik mal wieder als „orientalisch“ bezeichnet und im gleichen Atemzug als „Masche“ abgewertet wurde. Oder als ein Redakteur ihm bei der Ablehnung eines eingereichten Beitrages zurückmeldete, der Artikel sei „erstaunlich gut geschrieben“. Was mag daran wohl erstaunlich sein, wenn der Text eines solch renommierten Schriftstellers gut geschrieben ist?
„Schleichenden Rassismus“ nennt Rafik Schami solche unterschwelligen Abwertungen. Und er findet, dass diese Form von Rassismus gerade im Aufwind ist, auch unter Medienschaffenden. Diese hätten ihre öffentlichen Kanäle zudem (vom Autor so genannten) „Medienintellektuellen“ geöffnet, die in Wahrheit als Stichwortgeber für Rechtspopulisten fungierten.
Vereinnahmung durch Rechtspopulismus
Und die Gleichgültigen? Die lassen sich laut Rafik Schami immer häufiger von rechtspopulistischen Ideologen vereinnahmen. Eine Tendenz, die sich in der Corona-Pandemie noch verstärkt habe. Er schreibt:
„Diese Gleichgültigen sind fast gefährlicher als ihre Ideologen, weil sie schwer berechenbar und genauso schwer auffindbar sind, wenn sie nach einer von ihnen verursachten Katastrophe untertauchen.“
S. 75
Oft heißt es, die Gleichgültigen machten es sich einfach, indem sie weggucken, wenn es unmenschlich wird, und dann hinterher das Unschuldslamm spielen. Aber da geht Rafik Schami nicht mit: Als Gleichgültiger müsse man einen extremen Aufwand an Verdrängung betreiben und gegen all das Menschliche in sich kämpfen, das noch nicht abgestorben sei;
„bis zum völligen Tod des Gewissens muss der Gleichgültige alle Spuren der Humanität ausradieren; und das ist nicht einfach.“
S. 14
Mitwirken
Max Brod, an den ich beim Lesen denken musste und der als junger Schriftsteller in Prag versucht hat, die Gleichgültigkeit zu leben, ist an diesem Vorhaben jedenfalls gescheitert. Seine Freunde und der jüdische Vordenker Martin Buber haben ihn davon überzeugt, dass im Gegenteil verantwortungsvolles Handeln geboten ist und auch etwas bewirken kann. In der Folge hat Max Brod im Ersten Weltkrieg keine Kontakte ungenutzt gelassen, um eine Verständigung der Kriegsparteien zu erwirken, und er wurde aktiver Zionist. „Doch uns ist gegeben: mitzuwirken!“ lautete seitdem sein Mantra.
Dort aktiv werden, wo es einen betrifft
Auch Rafik Schami wirbt für ein aktives Leben, für das Sich-Einmischen. Bevor aus Wut und Enttäuschung schließlich Resignation werden kann, dreht er seine Anklageschrift in Richtung Appell. Er zählt auf, wieso es sich lohnt, ein aktives Leben zu führen, und wie dies gelingen kann. „Zuhören ist der erste Schritt zur Weisheit“ steht dort etwa oder „Man muss dort aktiv werden, wo es einen betrifft“.
Die Demokratie retten
Die Wirkung ist ein bisschen wie bei Jürgen Wiebickes zehn Regeln für Demokratieretter, so dass man als Leserin unwillkürlich denkt: jawoll, jetzt geht es los. Nur, dass Rafik Schami nicht so systematisch vorgeht wie Wiebicke, sondern freihändig aus der Fülle seiner Erfahrungen schöpft. Zum Beispiel so:
„Auch Kinder können gleichgültig werden, wenn ihre Eltern ihnen das täglich vorleben. Engagiert sein ist nicht gleichbedeutend mit einem gefährlichen, genusslosen Leben, ganz im Gegenteil. Es ist ein dynamisches Leben, bei dem Langeweile keinen Platz findet, das Hirn immer tätig bleibt und die Antennen für eine bessere Zukunft sensibel werden, was hilft die Gegenwart, die Mutter der Zukunft, nicht zu zerstören. Deshalb ist es wichtig, immer mit den eigenen und den Kindern der Anderen zu diskutieren und ihnen geduldig die Welt zu erklären. Oft lernt man dabei selbst auch noch das ein oder andere.“
S. 79f
Allerdings: Wir alle kennen doch diese Momente, in denen wir sagen wollen: Als Einzelner kann man sowieso nichts tun, und überhaupt blicke ich da nicht mehr durch…?! Rafik Schami entlarvt diese Entschuldigungen als Ausreden. Klar ist die Lage unübersichtlich, und wer sich engagiert, kann auch scheitern. Doch dieses Risiko, weiß der Schriftsteller, gehört einfach dazu.
Für mich bleibt kein Zweifel: Wenn es heute noch das legendäre Prager Tagblatt gäbe und Max Brod dort wie ehemals im Feuilleton schreiben würde, dann würde er diesen Essay von Rafik Schami bestimmt empfehlen.
Liane Czeremin ist Fachleiterin Demokratieentwicklung und Extremismusprävention bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.