„Bei mir gibt es nur Vorwärts “, so charakterisiert Mika Kaiyama aus Dessau-Roßlau ihre Lebenseinstellung, „keine Reue“. In Tokio geboren, ging sie Ende der 1980er Jahre nach Österreich, um in Graz ihrem Beruf als Opernsängerin nachzugehen.
„Plötzlich stehst du mitten im Geschichtsbuch“
In Graz saß sie gerade in einem Fastfood-Restaurant und aß einen Hamburger. Sie schaute abwesend auf einen der übergroßen Fernsehschirme. Plötzlich las sie, dass die Grenze zwischen Ungarn und Österreich geöffnet worden war. Sie ließ den ohnehin nicht übermäßig leckeren Burger liegen und rannte nach Hause vor ihren Fernseher. Das Gefühl, nicht wieder nach Tokio gehen zu wollen, verstärkte sich in der nächsten Zeit immer mehr. Mika Kaiyama wollte ins Zentrum des Geschehens, um die historischen Veränderungen nicht zu verpassen. Ein Lehrer, den sie um Rat fragte, sprach es aus: „Dann singen Sie doch einfach mal in Ostdeutschland vor“. Eigentlich hatte sie vor, wieder nach Tokio zu gehen und Gesangslehrerin zu werden …
Tokio oder Zwickau?
Mit den Augen einer klassischen Sängerin aus Tokio, deren Schwerpunktthema im Studium die Hochromantik war und deren Steckenpferd Richard Strauß, waren Hochburgen wie Dresden, Leipzig und Weimar bis dato unerreichbar, da sie in der DDR lagen. Sie bewarb sich. Als erstes sang sie in Zwickau vor, bekam die Stelle und zog um. Dort wurde eine Sängerin für eine Rolle gesucht, die sie immer singen wollte. Alles schien perfekt zu passen. Zumal in der ersten Probe auch noch der Mann auftauchte, den Mika Kaiyama später heiratete.
Solidarität und Unterstützung
Die Arbeitskultur in Zwickau war anders. Sie spürte wenig Konkurrenz, eher ein solidarisches Miteinander im Team. Man half sich, gab sich Tipps – die die anderen besser machten, vielleicht besser als man selbst. Wissen und Erfahrungen wurden untereinander geteilt. Aus Tokio und Graz kannte sie nur Ellenbogen- und Einzelkämpfermentalität. Leider ging mit dem Abbau der Kultureinrichtungen diese Kultur schnell verloren.
Mika Kaiyama erfährt Rassismus im Theater
In Zwickau stand ein Chefdirigentenwechsel an. Potenzielle Bewerber arbeiteten zur Probe mit dem Ensemble. Ein Bewerber war Mika Kaiyama von Anfang an unsympathisch. Er verhielt sich äußerst herablassend und wirkte machtbesessen. Es war kurz vor der Premiere von „La Traviata“. Sie war die Hauptdarstellerin. Nach einer langen Probe kurz vor der Premiere war es üblich, dass letzte Kritiken vom Chefdirigenten in die Runde gegeben wurden. „Als ich dran war, erstarrte ich förmlich. Das war keine normale Kritik, das war Rassismus pur. Übelste Klischeebilder über Japanerinnen waren im Spiel, ich wurde nicht als Sängerin kritisiert, sondern als Japanerin diskriminiert. In einer 10minütigen Litanei wurde ich vor allen Kolleg*innen zur Schau gestellt.“ Anschließend waren alle eingefroren, erinnert sie sich. Ein Tenor (auf dem Foto zu sehen) stand schließlich als einziger auf, sagte „Ihr Ton ist höchst beschämend“ und verließ den Raum. Anwesende Führungskräfte sagten nichts.
Angst, Angst, Angst
Der Dirigent bekam den Job nicht. Er überstand die Überprüfung auf Stasimitgliedschaft nicht. Mika Kaiyamam blieb in Zwickau, aber in ihr war etwas zerbrochen. Die tiefe Verletzung trägt sie bis heute. Erst als jener Dirigent starb, konnte sie darüber sprechen. Zum Reden hatte sie damals niemanden. Im Zeitalter von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gab es keine Rassismusdebatten und keine Beratungsstellen. Die Angst, auf der Straße angegriffen zu werden, kam dazu. Auch im Theater, bis dahin ein geschützter Raum, kam die Angst bis auf die Bühne gekrochen.
Rückzug und Familienzeit. Mika Kaiyama sucht
Sie zog sich aus dem Theater zurück. Mika Kaiyama gründete eine Familie und kümmerte sich um ihre beiden Kinder. Ihr Mann wechselte Ende der 90er Jahre ans Anhaltische Theater Dessau; schließlich zog die ganze Familie dorthin. Als die Kinder größer wurden, stellte sich die Frage, wie es beruflich weitergehen sollte. Mika spürte, dass sie nicht wieder auf die Bühne konnte. Sie war kein sauberer Ort mehr. Doch was konnte sie in Dessau tun? Sie war auf der Suche nach Netzwerken, nach einer sinnstiftenden Tätigkeit. Kurz nachdem sie nach Dessau gezogen war, wurde Alberto Adriano von Nazis getötet (2000). Konnte und wollte sie an diesem Ort leben?
Ehrenamt und LAMSA-Gründung
Sie begann ehrenamtlich in interkulturellen Projekten zu arbeiten und wurde fachlich immer besser. Die Tatsache, dass ihren Kindern genau das gleiche wie ihr – und mehr – passieren konnte, spornte sie an. Sie engagierte sich weiter und weiter. Das Gefühl, gegen Diskriminierung und Ungleichheit arbeiten zu müssen, ließ sie nicht mehr los. Aus ihrem alten Beruf hatte Mika Kaiyama einiges mitgenommen. Es erfüllte sie, mit Kindern Musik zu machen. 2008 wurde sie als Künstlerin zur Gründung des LAMSA, des Landesnetzwerkes der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt, eingeladen. Seitdem war sie in einer Mailingliste und erhielt regelmäßig Einladungen. Die nahm sie immer öfter an. Sie begann Projektkonzeptionen zu entwickeln und wurde schließlich hauptamtliche Mitarbeiterin von LAMSA. Heute ist sie stellvertretende Geschäftsführerin.
Angekommen
Mika Kaiyamas Bauch sagt ihr, dass das, was sie tut, das ist, was sie tun will. Der Fluss ist da, man muss nur mitschwimmen und schauen, wo man ankommt. Sie hat es keine Sekunde bereut, nicht mehr auf der Bühne zu stehen. „Das, was ich gerade tue, ist das Wichtigste; Madame Butterfly kann da nicht mithalten.“