Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Tadschikistan: Das Monchhichi – Ella P. erinnert sich

Das Monchhichi von Ella P. Foto: Ansgar Wilkendorf

Dieses rote Monchhichi ist das einzige Spielzeug – ich musste mich für eines entscheiden –, das ich mitnehmen durfte, als meine Familie 1988 Tadschikistan verließ. Wenige Monate vor unserer Ausreise hatte es mir eine Tante zum Geschenk gemacht.

Niemand sonst in meinem Freundeskreis besaß damals ein solches Stofftier. Ich hatte zwar einige Puppen, die ich gerne mitgenommen hätte, doch waren diese vergleichbar groß und daher schwierig zu transportieren, das Monchhichi dagegen klein und handlich. So entschied ich mich dafür.

Während andere Spielzeuge mit der Zeit kamen und gingen, ist dieses immer geblieben. Es hat mich seitdem immer begleitet, vor allem während der Anfangszeit hier in Wolfsburg. Als meine Familie und ich damals als sogenannte Spätaussiedler ausreisten, führte unser Weg zunächst nach Moskau, wo wir zwei Tage bei Verwandten verbrachten.

Ich erinnere mich noch, wie wir voller Aufregung am Terminal des Flughafens saßen. Ich war damals neun Jahre alt, hatte keine Vorstellung von Deutschland und von dem, was mich dort erwarten würde. Obwohl zwei meiner Tanten bereits dort lebten, hatten sie uns zu keinem Zeitpunkt Fotografien ihrer neuen Heimat geschickt. Allerdings bekamen wir hin und wieder Päckchen mit Süßigkeiten von ihnen, beispielsweise Gummibärchen – ein echtes Highlight für uns Kinder.

In Deutschland angekommen war ich überrascht, wie sauber und ordentlich es hier war. Eigentlich hätten wir zunächst in einem Lager unterkommen sollen, jedoch wurden wir Kinder schon bald von einer Tante abgeholt.

Verwandte von uns, die in Westhagen lebten, nahmen uns auf; wir bewohnten zu sechst eine Dreizimmerwohnung, nicht weit von der Schule, an der ich später mein Abitur erlangen sollte. In unserer Wohnung verfügte ich über eine quadratmetergroße Nische hinter der Tür, die ich mein Spielzimmer nannte.

Während andere Kinder mit ihren zahlreichen Puppen spielten, hatte ich mein Monchhichi; es war für lange Zeit das einzige Spielzeug, das ich besaß. Für andere Spielsachen war kein Geld vorhanden. Wohl auch dadurch entwickelte ich eine ganz andere Wertschätzung für mein Monchhichi. Es gab Trost; ihm erzählte ich das Erlebte, wenn ich einen schlechten Tag gehabt hatte. Es war mein ständiger Begleiter.

Ella P.s Kindheit in Tadschikistan

In Tadschikistan lebte meine Familie verhältnismäßig gut. Da mein Vater Fluglotse war, kam er viel herum und war daher schon immer etwas internationaler orientiert. Er dachte mit jenem Weitblick, der anderen fehlte, die nicht so viel reisten wie er.

Wenn mein Vater von einem Flug zurückkehrte, hatte er oft besondere Süßigkeiten, manchmal auch englische Schallplatten im Gepäck, die wir im Geheimen hören durften. Damals bekamen wir sogar ein Telefon und einen Fernseher, was nicht selbstverständlich war.

Allerdings gab es auch Momente, in denen ich aufgrund meiner deutschen Herkunft ausgegrenzt wurde. Die Anfeindungen begannen bereits im Kindergarten und setzten sich in der Schule fort. Kinder riefen uns hinterher: „Ihr seid Faschisten! Ihr verratet unser Land!“ Selbst noch am Bus, mit dem wir ausreisen sollten, standen Menschen, darunter Arbeitskollegen meines Vaters, die uns als „Verräter“ und „Nazis“ beschimpften.

In jenen Jahren heirateten viele deutsche Volkszugehörige russische Männer, um durch den neuen Namen nicht mehr aufzufallen. Meine Familie behielt jedoch ihren deutschen Namen, und dies ganz bewusst. Sie achtete auch darauf, dass unser Familienname nicht der Landessprache angeglichen wurde, wie es in sozialistischen Staaten oft der Fall war.

Trotz dieser Ausgrenzungserfahrungen würde ich heute gerne noch einmal nach Tadschikistan fahren, das dortige Fladenbrot essen oder den dortigen Tee trinken. Den Geschmack einer Feige aus Tadschikistan sucht man hier vergeblich, generell gibt es Obst wie in Tadschikistan hier nicht zu kaufen. Niemals vergessen werde ich auch die atemberaubenden Berge Tadschikistans, die ich gerne einmal wiedersehen würde.

Die Verfasser

Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto des Monchhichi nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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