Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.
Zuwanderungsgeschichten
Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.
Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.
Italien: Der Schlüsselanhänger – Tania D. erinnert sich
Denke ich an die Insel Sardinien, deren Umrisse dieser Anhänger zeigt, so denke ich an die sechs Wochen Sommerferien, die ich dort jedes Jahr als Kind zusammen mit meiner Familie – meine Eltern sind Sarden – bei unseren Verwandten verbracht habe. Ich denke an die Menschen, den Strand, das Meer und das gute Wetter. Mit Sardinien verbinde ich Entspannung sowie eine schöne Fahrt.
Bereits am Abend vor der Abreise packte mein Vater das Auto. Er fuhr damals einen Bulli, der ein jedes Mal bis oben hin mit Gepäck für uns fünf – ich habe noch zwei Brüder – beladen war.
Deutsche Gastgeschenke für die Verwandten
Hinzu kamen die Geschenke für die Familie in Italien; meist waren Schokolade oder andere Süßigkeiten aus Deutschland gefragt. So bereitete mein Vater für jeden Verwandten kurz vor der Abfahrt eine Tüte zum Naschen vor. Im Gegenzug brachten wir bei unserer Rückkehr aus Italien jedes Mal Käse, Oliven, Auberginen und anderes eingelegtes Gemüse mit zurück nach Wolfsburg. Sardischer Käse schmeckt einfach besser als der deutsche, sogar besser als die italienischen Käsesorten, die es hier in Wolfsburg zu kaufen gibt.
War alles eingepackt, ging es am nächsten Morgen los nach Italien. Damals war mein Vater der einzige in unserer Familie, der einen Führerschein besaß, weshalb er bis nach Italien durchfahren musste. Da wir jedes Jahr dieselbe Route nahmen, benötigte er schon bald keine Karte mehr für den Weg in die Heimat.
Die Route nach Sardinien
Natürlich war unser Bulli nicht klimatisiert; die einzige Möglichkeit, die Wärme etwas zu mildern, bestand darin, die Fenster zu öffnen und lockere Kleidung anzuziehen. Es galt die Reise durchzuhalten.
Unser Weg führte uns über die Schweiz bis nach Genua, wo wir bei Verwandten Unterkunft für die Nacht fanden. Als sie noch nicht dort gewohnt hatten, übernachteten wir meist auf Rastplätzen entlang der Straße in unserem Bulli: auf den Vordersitzen, auf der Rückbank, mein Vater draußen auf einer Matratze.
Am nächsten Tag folgte die Fahrt mit der Fähre von Genua nach Porto Torres auf Sardinien, die zehn bis zwölf Stunden in Anspruch nahm. An manchen Tagen, wenn das Meer besonders stürmisch war, konnte eine Überfahrt aber auch bis zu sechzehn Stunden dauern. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das Fährschiff im Sturm zu stampfen oder zu rollen begann – manchmal die ganze Nacht hindurch.
Auf Sardinien angekommen folgte dann noch eine zwei- bis dreistündige Autofahrt, bis wir endlich in Furtei angelangt waren, dem Ort, in dem meine Verwandten wohnten.
Lange Fahrten
Diese meist zwei Tage andauernde Reise von Wolfsburg bis nach Sardinien vertrieben wir Kinder uns häufig damit, Gameboy zu spielen. Mein Bruder hatte zudem bei einer früheren Fahrt die zu durchfahrenden Tunnel gezählt und setzte dann jedes Mal, sobald wir einen hinter uns gelassen hatten, einen Haken auf seiner Liste. Die Schweiz hatte diesbezüglich viel zu bieten.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir jedoch der Gotthard-Straßentunnel, der fast siebzehn Kilometer lang ist – ein spezielles Erlebnis für uns Kinder. Einmal jedoch sind wir auf unserer Fahrt nach Sardinien nicht durch den Tunnel, sondern über den Gotthardpass gefahren, die Passhöhe liegt über 2.100 Meter über dem Meer – zweifelsohne ein Highlight unserer Reise.
Die Rückfahrt verging – so mein Empfinden – meist schneller als die Hinfahrt, was aber auch daran liegen könnte, dass wir meist abends direkt mit der Fähre nach Genua übersetzten konnten und auf den Zwischenstopp in Italien am nächsten Tag verzichteten. Die Freude war dann jedes Mal groß, wenn wir zurück in Wolfsburg den Laagberg erblickten, von dem es lediglich noch fünf Minuten bis zu uns nach Hause war.
Die Verfasser
Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.
Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto des Schlüsselanhängers nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.