Heute, am 21. Mai 2023, jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Marokko zum sechzigsten Mal. Damals, 1963, erhoffte man sich, eine Vielzahl von Problemen ausräumen zu können. Illegale Einreisen nach Deutschland, Arbeitskräftemangel und politische Instabilität sollten verschwinden. Ganz so sollte es jedoch nicht kommen.  

Eine große Vision, größere Probleme 

Es ist 1963, achtzehn Jahre nach Kriegsende. Während die deutsche Wirtschaft den Herbst des Wirtschaftswunders erlebt, Deutsche nach dem Überlebenskampf der 1940er und frühen 50er Jahre die Konsumlust entdecken, zahllose sogenannte „Gastarbeiter“ den Boom ermöglichen, zittert die deutsche Bergbaubranche.  


Nicht nur billiges Erdöl übt massiven Druck auf die Steinkohleförderung aus. Auch aus den USA importierte Ware trägt dazu bei. Dass zuvor durch Subventionen der Branche Kohle weit über dem eigentlichen Bedarf gefördert wurde, ist auch keine Hilfe. Und letzten Endes mangelt es dieser angeschlagenen Branche schlicht und ergreifend an Manpower, denn Arbeit im Bergbau ist körperlich anstrengend, teils gefährlich und kaum zukunftsträchtig. So warten zahlreiche, unattraktive Arbeitsplätze darauf, besetzt zu werden. 

Auf der Suche nach Zukunft 

Gleichzeitig, einige tausend Kilometer entfernt, steht die marokkanische Regierung vor einem Problem:  
In der Rif-Region im Norden Marokkos steigt die Spannung. Eine komplizierte Geschichte von Krieg, Rebellion und dem schließlich verlorenen Kampf um die eigene Unabhängigkeit hat Spuren hinterlassen: Politisch ist die Rif-Region instabil, wirtschaftlich ist sie unterentwickelt. Sie bietet kaum Perspektiven für ihre jungen Bewohner. So kommt es, dass schon vor 1963 viele junge Marokkaner ihr Leben selbst in die Hand und den Weg nach Deutschland auf sich nehmen.  
Ihre Hoffnung, wirtschaftliche Prekarität gegen sichere Jobs auszutauschen, wird an den Grenzen jedoch auf die Probe gestellt: Behördenstau und lange Wartezeiten bedeuten erneut Unsicherheit.  
Viele umgehen die legalen Einreisewege und reisen ohne die geforderten Papiere ein.  

Die Lösung? 

All dies soll das Anwerbeabkommen vom 21. Mai 1963 ändern. In der Idealvorstellung der Beteiligten sollen junge Menschen – hauptsächlich Männer – die Rif-Region verlassen. Dadurch würden, in der Theorie, die Spannungen sinken. In Deutschland angekommen würde ihre Einreise dann durch die Behörden geleitet und die Arbeiter könnten schließlich dem deutschen Bergbau unter die Arme greifen. Weniger Zukunftsangst, weniger illegale Einreisen, mehr Manpower – das ist das Ziel.  

Auf dem Boden der Tatsachen 

Der Wille war da. Bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 kamen circa 22.400 Marokkaner nach Deutschland. Sie siedelten sich hauptsächlich in Hessen und Nordrhein-Westfalen an, wo der Bergbau lange stark war. Bis heute leben dort die meisten Menschen mit marokkanischer Migrationsgeschichte.  
Jedoch enthielt das unterschriebene Abkommen einige Einschränkungen, die dazu führten, dass Menschen weiterhin illegal einreisten. So galt es nur für Unverheiratete. Familien-zusammenführungen wurden explizit ausgeschlossen, genauso ein Aufenthalt länger als zwei Jahre. Auch mussten sich Einreisende Untersuchungen und Prüfungen unterziehen, ob sie gesund und für ihre Arbeit geeignet seien.  
Die deutschen Behörden auf der anderen Seite waren mit dem anstehenden Papierkram überfordert. Gleichzeitig wurde die Hoffnung auf Rettung des deutschen Bergbaus durch marokkanische „Gastarbeiter“ enttäuscht. Keine Manpower der Welt konnte die Branche vor dem Lauf der Zeit retten. Allein bis zur Mitte der 1960er Jahre gingen hunderttausende Jobs verloren.  

„Zu Gast“ in Deutschland 

Wie so viele „Gastarbeiter“, trafen Marokkaner in der deutschen Gesellschaft auf eine Wand. Es herrschten rassistische Ressentiments gegen die „Fremden aus Afrika“, aber auch der Unwille sich mit den neuen Kulturen in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Sprachkurse gab es nicht. Mancherorts hingen Schilder, die den Eintritt von Hunden und „Gastarbeitern“ verboten. In der Folge entwickelten sich Parallelgesellschaften. Vielleicht ist auch das einer der Gründe dafür, dass Menschen mit marokkanischem Migrationshintergrund in Deutschland bis heute häufig unsichtbar sind.

Noch 2013 wurde das 50-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens von der taz als „Das verschlafene Jubiläum“ betitelt. Auch die Düsseldorfer Pädagogin Karima Benbrahim berichtet dem Mediendienst Integration von der Unsichtbarkeit des Jubiläums und der deutsch-marokkanischen Community. Es gäbe kaum Vertreter*innen, die auch als solche wahrgenommen würden, häufig wären sie in den Augen von Menschen ohne Migrationsgeschichte einfach Muslime oder Teil der wesentlich größeren und diverseren Gruppe derer, die eine Migrationsgeschichte vom Kontinent Afrika aufzuweisen haben.  

Und dann?  

Nach dem Anwerbestopp 1973 zogen viele Familienmitglieder und Ehepartner*innen der Eingereisten nach Deutschland. Auch, weil die Zuwanderungspolitik Deutschlands keine anderen Möglichkeiten zur Einreise offenließ, stieg so bis 2007 die Zahl der Menschen mit marokkanischem Migrationshintergrund auf 127.000. Gerade für die selten angeworbenen Frauen war dies der beste Weg nach Deutschland. Nach 1990 zogen nun auch nicht mehr nur Arbeiter, sondern auch Studenten und Menschen aus anderen Teilen Marokkos sowie aus anderen Bildungsschichten vermehrt nach Deutschland.  

Ehemalige „Gastarbeiter“ heute 

Noch 2013 waren laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung 40 Prozent ausländischer Senioren in Deutschland von Altersarmut betroffen. Zum Vergleich: Das ist etwa dreimal mehr als deutsche Rentner, die von Altersarmut betroffen sind. 
Häufig als ungelernte Arbeiter angekommen, beziehungsweise eingesetzt, wurden marokkanischen „Gastarbeitern“ oft sehr geringe Löhne gezahlt – für harte, schweißtreibende Arbeit im Bergbau oder in der Industrie. Heute, angesichts von Inflation und großen wirtschaftlichen Herausforderungen, sind gerade sie schlecht für kommende Krisen gewappnet.  


So ist die Geschichte derer, die nach 1963 als „Gastarbeiter“ angeworben wurden, eine, die zeigt, wie wenig man sich um die Personen hinter der Arbeitskraft kümmerte. Nicht nur Marokkaner*innen fanden sich in einer Gesellschaft wieder, die einen Austausch zwischen den Kulturen vermied. Einer Gesellschaft, welche die anstrengendste und aufreibendste Arbeit für ausländische Arbeiter übrigließ und sie nach den dafür vorgesehenen zwei Jahren am liebsten ohne weitere Perspektive nach Marokko zurückschicken wollte.  

Ohne an die Menschen selbst zu denken, können große Visionen nicht gelingen.  

Quellen:  

https://taz.de/50-Jahre-marokkanische-Gastarbeiter/!5062924/

https://lebenswege.rlp.de/de/sonderausstellungen/50-jahre-anwerbeabkommen-deutschland-marokko/sein-schicksal-in-die-eigenen-haende-genommen/

https://menschen-im-bergbau.de/themen/der-lange-strukturwandel/bergbaukrise-und-rag-grundung/

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Gastarbeiter-in-Deutschland-Gekommen-und-geblieben,gastarbeiter258.html

Die unsichtbaren Migranten | Artikel | MEDIENDIENST INTEGRATION (mediendienst-integration.de)  

Titelbild: Die marokkanische Flagge kombiniert mit der Flagge der Bundesrepublik Deutschland.Eigene Collage.

Über den Autor

Amelie B.

ist Mitglied des Rates der Stiftung "Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung" und engagiert sich dort ehrenamtlich.

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