Die knapp 125.000 Einwohnerinnen und Einwohner der im östlichen Niedersachsen gelegenen kreisfreien Stadt Wolfsburg setzen sich aktuell aus etwa 150 Nationen zusammen. Wie kaum eine andere Stadt ist das 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“ gegründete Wolfsburg durch Zuwanderung geprägt. In den Nachkriegsjahren war es zunächst der Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen, in den „Wirtschaftswunderjahren“ sodann die Ankunft der sogenannten Gastarbeiter, ehe Ende der 1970er Jahre die Spätaussiedler folgten – und ihnen bis heute Menschen aus der ganzen Welt.
Lückenhafte Überlieferung
Diese Vielfalt sowohl der Zuwanderungsphasen als auch der Herkünfte spiegeln sich jedoch nicht in den Beständen des Wolfsburger Stadtarchivs. Es klafft dort vielmehr die Überlieferung der kommunalen Migrationsgeschichte betreffend eine erhebliche Lücke.
Gut dokumentiert: „Heimatvertriebene und Italiener*innen“
Ist noch die Geschichte der sogenannten Heimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie der SBZ-Flüchtlinge verhältnismäßig gut dokumentiert, so gilt dies nicht minder für die der italienischen „Gastarbeiter“, die es wohl auch aufgrund ihrer Zahl und möglicherweise auch aufgrund ihrer spezifischen Art der Unterbringung verstanden, sich auf vielfältige Art und Weise aktiv in die Stadtgesellschaft einzubringen, sei es politisch, gewerkschaftlich oder kulturell.
Kaum Spuren im Archiv
Doch schon von den tunesischen „Gastarbeitern“, der zweiten großen Gruppe an Arbeitsmigranten, die seitens des Volkswagenwerks angeworben wurden, die Anfang der 1970er Jahre nach Wolfsburg kamen, finden sich kaum Spuren ihrer Migrationsgeschichte, ihres Ankommens und Lebens in der Stadt im kommunalen Archiv. Die Suche wiederum nach Akten, die die Lebenswege der Portugies*innen, Spanier*innen, Griech*innen, Jugoslaw*innen oder auch Lateinamerikaner*innen betreffen, ist faktisch aussichtslos.
Leerstellen füllen
Die Kernaufgabe von Stadtarchiven besteht in der Übernahme kommunalen Schriftguts, in der Regel Verwaltungsschriftgut. Dies wird dann zum Problem, wenn Zuwanderung respektive Migration seitens der Verwaltung nicht als eigener relevanter Aspekt der Stadtentwicklung wahrgenommen wird, diese Prozesse daher nicht dokumentiert und archiviert werden. Da im Kontext bundesdeutscher Migrationsgeschichte auf kommunaler Ebene jahrzehntelang nicht spezifisch gesammelt wurde – Wolfsburg stellt hier alles andere als einen Sonderfall dar –, gilt es nun, die entstandenen Leerstellen sukzessive zu füllen, um die Sichtbarkeit der unterschiedlichen, mitunter marginalisierten Zuwanderungsgruppen zu erhöhen, wenn nicht gar erst zu ermöglichen. Fakt ist: Ohne Archivierung findet keine Tradierung statt.
Impuls aus der Verwaltung
Der Impuls für unser Oral-History-Projekt kam letztlich aus der Verwaltung selbst. Im Jahr 2019 trat das Integrationsreferat der Stadt Wolfsburg an das Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS) heran, ob wir nicht anlässlich des 45-jährigen Bestehens des Referats ein Projekt zur Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs realisieren könnten.
Mitgebracht
Ein Jahr später publizierten wir Mitgebracht – Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs (erschienen im ecrivir Verlag), das sich dem Thema Zuwanderung über Objekte nähert, die mit persönlichen Erinnerungen der Interviewten aufgeladen sind. Die Arbeit an diesem Buchprojekt, das auch von einer kleinen Ausstellung in der Bürgerhalle des Rathauses begleitet war, führte uns die dringliche Handlungsaufforderung vor Augen, Zuwanderungsgeschichten zu sammeln, aufzubewahren und zu vermitteln.
Eine Ausstellung
Pandemiebedingt verschob sich der Beginn des neuen Oral-History-Projekts auf das Jahr 2022. Im Rahmen der Ausstellung Percorsi Di Vita – Lebenswege nach Wolfsburg (der Ausstellungskatalog ist im Frühjahr 2023 im Wallstein-Verlag erschienen), die wir anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Ankunft der italienischen „Gastarbeiter“ im Jahr 1962 erarbeiteten, führten wir zwölf Interviews mit Italienern und Italienerinnen. Schon hier zeigte sich deutlich, dass Zuwanderung ein vielschichtiger Prozess ist, Migrant*innen trotz des gleichen Herkunftslandes alles andere als eine homogene Gruppe darstellen. Es galt etablierte Zuschreibungen zu differenzieren, gängige Narrative zu dekonstruieren und neu zu bewerten. Denn bereits viele Jahre vor dem Wolfsburger Annus mirabilis der italienischen Zuwanderung nach Wolfsburg – 1962 – arbeiteten Italiener im VW-Stammsitz, auch wenn das bis heute gepflegte Narrativ von Werk und Stadt ein anderes ist. Dass darüber hinaus für eine Vielzahl junger Männer nicht die Arbeit und das Geldverdienen der primäre Migrationsanlass war, wurde in den geführten Oral-History-Interviews immer wieder deutlich.
Lebensgeschichtliche Interviews
Gleiches gilt für die lebensgeschichtlichen Interviews, die wir seit dem Abschluss des Percors-di-vita-Projekts mit Arbeitsmigrant*innen aus anderen Ländern Europas und dem Maghreb geführt haben.
Carlos D. aus Portugal
Carlos D. beispielsweise kam 1964 aus Portugal nach Deutschland. Er erzählt:
„Mein Vater war ein gut situierter Mann. Er war Kaufmann. Hatte so ein, zwei Geschäfte, Lebensmittelgeschäfte im Zentrum von Lissabon, und dann einige Connections und hat mir gesagt, ‚Wir müssen hier raus, also du musst hier raus‘. Weil ich zuvor in einer Demo mal erwischt worden bin gegen Salazar, damals. Und ja, und da hat man mich, nachdem ich mein Abitur gemacht habe, das war in diesem Jahr, hat man mir gesagt, also mit Studieren ist bei dir wohl nichts mehr.“
Diktaturerfahrungen
In Carlos D.s Geschichte wird ein zentraler Aspekt unseres Projekts sichtbar: die Diktaturerfahrungen von Migrant*innen. Wir erachten sie auch deshalb als zentral, weil wir anhand ihrer neue Vermittlungsangebote im Kontext von Demokratieförderung und Erinnerungskultur schaffen können. Dies ist angesichts einer sich stetig wandelnden Gesellschaft unumgänglich.
15 Interviews bis jetzt
Seit September 2022 führten wir bis zum jetzigen Zeitpunkt 15 weitere Oral-History-Gespräche mit Menschen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Griechenland, Jugoslawien, Kasachstan, Polen, Spanien und Tunesien. Bereits aus diesen lebensgeschichtlichen Interviews eröffnen sich eine Vielzahl neuer Perspektiven auf die Zuwanderungsgeschichte von Stadt wie Land – und zahlreiche Optionen auf weitere Projekte. Neben den Diktaturerfahrungen interessieren uns vor allem die sozialen und informellen Netzwerke der Zugewanderten, die ihnen die ersten Schritte in der Fremde erleichtert haben. Neben den klassischen Themen wie Arbeit, Armut und Sprache sind es aber auch Geschichten über Freiheit, Mut, Selbstbehauptung und Unabhängigkeit, die unsere Aufmerksamkeit wecken und fesseln.