„Manchmal gehe ich durch die Stadt und einige Leute betrachten mich mit Hass in den Augen. Deshalb sehe ich nicht in die Gesichter der Menschen. Ich möchte den Menschen in Haltern sagen, dass nicht jeder schlecht ist. Jede Person hat eine Geschichte“, schrieb der 21-jährige Suleiman aus dem Irak. Er wurde 2016 gebeten, seine Fluchtgeschichte festzuhalten. Mit seiner Aussage traf Suleiman genau die Intention der Zeitungsserie und späteren Wanderausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“: Menschen mit Fluchterfahrung ein Gesicht und eine Stimme zu geben.

Eindrückliche Portraits und Erfahrungen

In der Ausstellung des Asylkreises Haltern am See laden 20 Roll-Ups mit großformatigen Schwarz-Weiß-Portraits und kurzen Texten dazu ein, näherzutreten und genauer hinzuschauen. Wer sind die Flüchtlinge, die bei uns – in der Stadt Haltern am See mit 39000 Einwohnern – Schutz suchen? Was hat sie in die Flucht getrieben? Wie geht „Fliehen“ überhaupt? Und schließlich: Wie erleben sie ihre Ankunft in Deutschland? Mutig und offen erzählen Selam aus Eritrea, Faiz aus Afghanistan und Mohammed aus Guinea stellvertretend für viele andere von ihren Erlebnissen. Es sind ergreifende Schilderungen, voller Trauer über das Verlorene, aber auch mit Stolz über das Bewältigte mit einem Schimmer von Hoffnung für ihre Zukunft.

Die großformatigen Portraits der Wanderausstellung ziehen die Besucher förmlich an. Foto: Kirsten Augello, Caritasverband Datteln

Auch Deutsche berichten über ihre Flucht

Im Kontext der aktuellen Migrationsdebatten fehlt der Hinweis auf Zeiten, in denen es vergleichbar viele Fluchtbewegungen weltweit gab, beispielsweise in Deutschland während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb kommen auf den Roll-Ups auch Grete aus Ostpreußen, Bernd aus Posen und Danilo aus der DDR zu Wort. Der Blick auf die deutsche Geschichte ruft bei Betrachtenden das Thema Flucht als Teil der eigenen Familien- oder Stadtgeschichte in Erinnerung. Durch die entstehende Nähe tauchen persönliche Fragen auf: Was könnte mich in die Flucht treiben? Und: Wohin würde ich gehen, wenn meine Heimat nicht mehr meine Heimat sein kann?

Positives Feedback der Ausleiher

Ausleihende der Wanderausstellung berichten, sie verändere den Blick auf Asylsuchende. Die Bilder und Fluchtbiografien ermöglichen es, Empathie zu entwickeln. Sie sind ein guter Aufhänger, um viele Themen rund um Migration, Rassismus und Integration anzusprechen. Viele folgen dem Tipp aus dem Handbuch zur Ausstellung und bitten bei Ausstellungseröffnungen geflüchtete Menschen aus dem eigenen Ort aufs Podium. Oder sie nutzen die Anleitung „Portraits selber machen“ und erstellen eigene Ausstellungen. Bislang wurden die Gesichter einer Flucht bundesweit rund 150-mal von Schulen, Sozialverbänden, Seniorenheimen, Bildungshäusern, Justizvollzugsanstalten, Polizeirevieren, Sozialverbänden, Kirchengemeinden und Flüchtlingsinitiativen präsentiert.

Schau mich an – Gesicht einer Flucht. Ein Projekt mit Strahlkraft

Grundlage der Ausstellung ist eine zwischen 2016 und 2018 ehrenamtlich erstellte Portraitserie mit 43 Folgen in der Halterner Zeitung. Erst mit der Zeit wurde deutlich, dass das „Schau mich an – Projekt“ wesentlich mehr Facetten hat, als das ursprüngliche Ziel, Verständnis für geflüchtete Menschen zu wecken und Ängste in der Bevölkerung abzubauen. Dies zeigte sich in Haltern am See in ganz konkreten Angeboten von Wohnungen, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Flüchtlinge. Es wuchs die Bereitschaft sich im Asylkreis zu engagieren und Menschen mit Fluchterfahrung zu Behördenterminen zu begleiten oder beim Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen.

Wirkung auf Interviewpartner*innen

In der Regel werden geflüchtete Menschen von Deutschen nicht nach ihrer Geschichte gefragt. Man möchte ihnen nicht zu nahetreten und möglicherweise Erinnerungen an schreckliche Dinge wecken. Doch vom eigenen Leben erzählen zu dürfen und gehört zu werden, ist eine besondere Wertschätzung, die gerade auch geflüchteten Menschen gut tut. Für viele war es etwas Besonderes, abseits von belastenden Interviews beim Bundesamt für Migration, ohne Druck erzählen zu dürfen. Einige Interviewpartner*innen erlebten durch das Formulieren und Aussprechen ihrer Erinnerungen eine Art Heilungsprozess. Und es passierte noch mehr, einige weitere Effekte seien hier aufgezählt:

  • Interviewpartner*innen teilen ihre Portraits in Sozialen Medien und erhalten von ihren Landsleuten großen Zuspruch. Ein Jeside schrieb: „Endlich spricht jemand über unsere Misere.“
  • Einige der älteren deutschen Teilnehmer*innen haben noch nie (oder so ausführlich) über ihre Erlebnisse gesprochen. Manche kostet es große Überwindung. Eine Teilnehmerin meldete überrascht zurück: „Ich fühle mich erleichtert. Ich habe gar nicht gewusst, dass mich das alles so belastet. Seitdem ich Ihnen davon erzählt habe, kann ich darüber reden.“
  • Projektteilnehmer*innen wachsen über sich hinaus, wenn sie während der Ausstellungseröffnungen vor Publikum von sich und ihren Fluchterfahrungen erzählen.

2020 folgte ein Update, in dem drei Menschen aus der Ausstellung berichten, wie sie heute leben. Ihre Portraits sind den Fluchtgeschichten in Farbe beigefügt. Eine Art Fortsetzung entstand 2019 – 2022 mit dem aus Bundesmitteln geförderten Projekt „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“.



Die Ausstellung besteht aus 20 Roll-Ups (19 Portraits und 1 Infobanner) für den Innenbereich. Sie sind flexibel aufzustellen und haben ausgezogen eine Größe von 0,85 x 2,00 m.
Nachahmer finden auf der Internetseite www.gesicht-einer-flucht.de einen Leitfaden für die Erstellung eigener Portraits. Weitere Informationen und Buchungsanfragen senden Sie an:
Frau Gerburgis Sommer, gesicht-einer-flucht@gmx.de, 0157-73184748


Großformatige Portraits. Blick in die Ausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ .
Foto: Kirsten Augello, Caritasverband Datteln

Titelbild: Hinter jedem einzelnen Gesicht steht ein Mensch und ein Schicksal. Die Ausstellung holt geflüchtete Menschen aus der Anonymität. Fotos: Jennifer Grube, Fotostudio Augenblick

Über den Autor

Gerburgis Sommer

arbeitet für den Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen in der Öffentlichkeitsarbeit. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Asylkreis Haltern am See und hat das Projekt „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ initiiert und durchgeführt. Sie organisiert den Verleih der Wanderausstellung. Beim Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen führte sie das Projekt „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“ durch. Noch immer bedient sie Nachfragen für Workshops und berät Interessierte zu Interviewprojekten.

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