Fangen wir einmal ganz von Vorne an

Die Geschichte der weltweiten Migration begann bereits bei unseren Vorfahren, den Homo sapiens. Sie machten sich aus dem Rift Valley in Afrika, das im Allgemeinen als die Wiege der Menschheit betrachtet wird, auf den Weg in andere Teile der Welt. Obwohl das Thema dieses Beitrags uns nicht ganz so weit in die Vergangenheit führt, soll diese Tatsache deutlich machen, dass Migration kein Phänomen der Moderne ist.

Das Mobilität bereits in der Antike allgegenwärtig war, gilt inzwischen als weitestgehend anerkannt. Menschen, die sozial, geografisch und kulturell in Bewegung waren, stellten den Normalzustand dar. Die Migration im Zuge des Phänomens, das wir heute als „Völkerwanderung“ bezeichnen, war also keineswegs neuartig.

„Völkerwanderung“ als Begriff

Bei dem Begriff „Völkerwanderung“ handelt es sich nicht um einen Quellenbegriff, also einen in der behandelten Zeit verwendeten Ausdruck. Stattdessen führt die Bezeichnung auf den Humanisten Wolfgang Lazius zurück, welcher im 16. Jahrhundert die Wendung „migrationes gentium“ prägte. Als Epochenbegriff etablierte sich die „Völkerwanderung“ Ende des 18. beziehungsweise Anfang des 19. Jahrhundert und wurde definiert als „große Bewegung der germanischen Völker am Ausgang des Altertums“.

Doch bereits das Wort „Volk“ ist in diesem Kontext irreführend. Die Vorstellung von einem einheitlichen Volk wie den Germanen, welches über die Jahrhunderte Bestand hat, wurde immer wieder im Zuge des deutschen Nationalbewusstseins instrumentalisiert. Jedoch weiß man heute, dass es sich bei Völkern um heterogene, sich ständig verändernde, instabile soziale Gebilde handelt, deren Zusammenhalt durch Identitätsbildungsprozesse und gemeinsamer Politik geprägt wird. Unter den an der „Völkerwanderung“ beteiligten germanischen Verbänden gab es allerdings keine politische Einheit und es existierte auch kein identitäres Gemeinschaftsbewusstsein innerhalb der Gruppierungen. Eine über Jahrhunderte nachverfolgbare kohärente Einheit lässt sich auch nicht feststellen. Dies gilt sowohl für kleine Verbände als auch für die Großverbände wie beispielsweise die Goten, Hunnen, Alemannen und Franken.

Wer? Wann? Warum? Wohin? – Ein Überblick

Typischerweise werden im Kontext der „Völkerwanderung“ die Vandalen, Hunnen, West- und Ostgoten, Franken, Angeln und Sachsen, Burgunder sowie Langobarden genannt. In den meisten Auflistung fehlen allerdings die gescheiterten und so quellentechnisch kaum sichtbaren Gruppen. Deren Zahl muss jedoch durchaus beachtlich gewesen sein.

Besonders zwischen den folgenden Gruppen ist zu unterscheiden: Geflüchtete, welche militärisch gut gerüstet waren. Dazu zählen beispielsweise die Goten, welche 376 die Donau überquerten. Zudem mobile Armeen, welche von steigenden Zahlen an Zivilisten begleitet wurden, wie der Verband des Goten Alarich, der 410 Rom einnahm. Es gab auch Gruppen, welche die Integration in das Römische Reich anstrebten. Großverbände wie die Vandalen waren dagegen auf der Suche nach wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit. Außerdem sind verschiedene mobile Kriegergruppen zu nennen, sowie nomadische Reitertruppen wie die Hunnen und (halb)nomadische Verbände mit andauernden Beziehungen zum Römischen Reich, wozu die Araber zählten. Es existierten zudem kleine Gruppen mit bäuerlichen Strukturen wie die Slawen.

Die „Völkerwanderung“ symbolisiert den Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter. Zeitlich wird sie typischerweise auf die Jahre 375-568 eingegrenzt. Dieser Zeitraum beginnt mit der Ankunft der aus Asien stammenden Hunnen in Europa und endet mit dem Einfall der Langobarden in Italien. Jedoch basiert diese zeitliche Einordnung ausschließlich auf der Phase der „germanischen“ Bewegungen. Ignoriert werden dabei die slawischen Aktivitäten im 6. Jahrhundert sowie die seit dem 7. Jahrhundert aufkommende arabische Expansion.

Für die verstärkten Bewegungen zur Zeit der „Völkerwanderung“ lassen sich verschiedene Push- und Pull-Faktoren identifizieren. Grob kann man das Klima, welches die Nahrungsmittelversorgung gefährdete, die Flucht vor Feinden wie den Hunnen und wirtschaftliche Faktoren nennen. Zudem sind die durch den Bevölkerungswachstum entstandene Landnot sowie Eroberungs- und Kriegsbestreben relevante Faktoren.

Ganz Europa bis hin zum Schwarzen Meer ist in Bewegung, viele Verbände verlassen ihre Siedlungsgebiete.

Die Bedeutung der „Völkerwanderung“ für das Römische Reich

Die “Völkerwanderung“ verursachte den Untergang des Römischen Reichs. Diese Sichtweise ist bis heute weit verbreitet. Die Entwicklung wird als einen durch externe Umstände herbeigeführten Zusammenbruch klassifiziert.

Dabei wird jedoch unbeachtet gelassen, dass Migration in den verschiedensten Formen bereits vor der „Völkerwanderung“ eine Alltäglichkeit im Römischen Reich darstellte. Das Römische Reich förderte die Zuwanderung aus den außerrömischen Gebieten sogar, um beispielsweise Arbeitskräfte und Soldaten zu gewinnen. Auch während der „Völkerwanderung“ lässt sich eine intensive Beziehung zwischen den Römern und den “Barbaren“ identifizieren. Sie drückt sich über regen Austausch und politische wie soziale Prozesse aus. Laut dem Althistoriker Mischa Meier strebten „[D]die meisten Barbaren […] nach Integration in das Römische Reich, nicht nach dessen Zerstörung; man wollte von seinen Reichtümern und vom hohen Lebensstandard profitieren, keineswegs aber vorrangig dessen Grundlagen vernichten.“

Es war also keineswegs ein neuartiges, bedrohliches Phänomen, welches das Römische Reich überraschte und so in die Knie zwang. Lediglich die Kombination des Drucks, der von außen kam, mit den innenpolitischen Problemen des Römischen Reichs seit dem Beginn des 5. Jahrhunderts, stellte ein Spannungsverhältnis dar. In dieser angespannten Lage war der Westen des Reichs nicht in der Verfassung, die Herausforderungen zu meistern, die mit der Diversität der verschiedenen Verbände einhergingen, die nun innerhalb oder an den Grenzen des Reiches existierten.

Spuren in der Gegenwart

In den Medien tauchte in der Vergangenheit immer wieder der Vergleich zwischen der „Völkerwanderung“ und der „Flüchtlingskrise“ auf. Es wird versucht, Rückschlüsse auf die möglichen Folgen von großen Migrationsbewegungen zu ziehen, Handlungsmöglichkeiten für Gesellschaft und Politik zu erarbeiten und Warnungen auszusprechen. Diesen Vergleich kann man jedoch als höchst problematisch ansehen, vor allem durch die bis heute bestehende, fälschliche Wahrnehmung der “Völkerwanderung“ als Grund für den Untergang des Römischen Reichs. Eine Assoziation, welche fatale Auswirkung auf die Bewertung der gegenwärtigen Situation hat. Ein komplexes Phänomen wie die “Völkerwanderung“ mit fundamental anderen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen lässt sich nicht so einfach als Stütze für heutige Akteure verwenden.

Quellen
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/252254/globale-migration-geschichte-gegenwart-zukunft/
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/229813/die-voelkerwanderung/#footnote-target-1
https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/europa-in-der-zeit-der-voelkerwanderung-mit-mirko-drotschmann-doku-100.html
https://www.welt.de/geschichte/article146984408/Was-Roms-Voelkerwanderung-von-heute-unterscheidet.html
https://www.deutschlandfunk.de/mischa-meier-geschichte-der-voelkerwanderung-100.html
Titelbild: Ulpiano Checa - "Die Invasion der Barbaren“

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