Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden. Heute berichtet Dora B. von ihrem “Mitbringsel” aus Italien.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das “Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Ein Scopa aus Italien – Dora B. erinnert sich

Dora B.s Scopa aus Italien begleitete sie überall hin. Foto: Ansgar Wilkendorf

Das ist ein Kartenspiel, das in Italien und dort vor allem in Sizilien und Neapel sehr viel gespielt wird. Es heißt Scopa. Genau genommen ist es die sizilianische Variante (carte siciliane) – es gibt auch eine aus Neapel (carte napoletane).

Woher dieses Spiel kommt, ist nicht so richtig klar. Es heißt, die Araber hätten es während der Islamischen Expansion mitgebracht, als sie im 8. Jahrhundert Spanien und ein Jahrhundert später auch Sizilien eroberten.

Meine Familie kommt ursprünglich aus Sizilien; meine Großeltern haben dort gelebt und gearbeitet. Und dieses Spiel verbinde ich mit meinen sizilianischen Wurzeln. Es begleitet mich und meine Familie bis heute: Egal wo wir sind, sobald wir einmal nichts zu tun haben, wird das Spiel herausgekramt. Als beispielsweise meine kleine Schwester geboren wurde, waren mein Bruder und ich zuhause, und da wir so aufgeregt waren, haben wir dann Scopa gespielt, um wenigstens irgendetwas zu tun.

Mein Kartenspiel ist noch recht neu. Ich habe es geschenkt bekommen, als meine Eltern zurück nach Italien gegangen sind. Sie leben jetzt in Norditalien. Das ursprüngliche Familienkartenspiel haben sie natürlich mitgenommen, haben mir aber zuvor mein eigenes Scopa geschenkt.

Scopa und die Gerüche der Kindheit

Ich habe das Spiel schon als Kind sehr schnell gelernt. Sobald man zählen kann, kann man auch Scopa spielen. Mir hat es mein Opa beigebracht – und deswegen verbinde ich damit kurioserweise auch ganz viele Gerüche. Und das kam so: Ich bin in Mailand groß geworden, im Norden Italiens. Wir sind dann oft in den Urlaub nach Sizilien gefahren, meist im Sommer. Und während mir mein Opa das Spiel beigebracht hat, kochte meine Oma.

Sie hat ganz oft aus den ciliegini, das sind kleine Tomaten, die in Sizilien angebaut werden, eine wundervolle Tomatensoße gemacht – und das brauchte seine Zeit. Im ganzen Haus duftete es dann schon immer so gut, doch wir mussten eben noch warten, bis die Soße wirklich fertig war, bis wir sie kosten durften oder zu Mittag essen konnten. Und währenddessen haben wir dieses Spiel gespielt.

Ein steter Begleiter – Von Italien nach Wolfsburg

Meine Eltern kommen aus der kleinen Stadt Licata im Süden Siziliens. Direkt an der Küste gelegen ist sie eine Stadt des Meeres. Nach dem Abschluss ihres Studiums haben sie beschlossen, Teil der 68er-Bewegung zu werden und Sizilien wie auch die alten Traditionen hinter sich zu lassen, ein neues Leben in Mailand zu beginnen.

Dort arbeiteten sie als Lehrkräfte. Später zogen wir nach Bulgarien, da mein Vater an der dortigen Universität Italienisch und Philosophie gelehrt hat. Auch in Sofia haben wir immer zu Scopa gespielt wie auch später in Stuttgart und in Wolfsburg – und es auch allen möglichen anderen Menschen beigebracht. Es ist nicht schwer zu verstehen. Für mich ist das Scopa-Spielen auch eine Art des Zusammenkommens.

Die Verfasser

Der vorliegende Geschichte zum Land Italien entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation” der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Krausverfasst. Das Foto des Scopa nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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