Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Irak: Die kurdische Tracht – Taban M. erinnert sich

Eine kurdische Tracht aus dem Irak. Foto: Ansgar Wilkendorf

Die kurdische Tracht, wie auch die dazugehörige traditionelle Mütze für Frauen, wird meist allein zu besonderen Anlässen getragen, so bei Verlobungsfeiern oder Hochzeiten. Einer dieser speziellen Anlässe ist der 21. März, an dem das kurdische Neujahrsfest Newroz begangen wird. Es ist in seiner Bedeutung in etwa so hoch einzuschätzen wie Heilig Abend oder Ostern für die Christen.

Zum Neujahrsfest, das den Frühlingsanfang markiert, wird ein riesiges Feuer auf einem Berg entfacht. Alle ziehen mit Fackeln auf diesen hinauf; oben angekommen tanzen und kreisen sie um das Feuer.

Als wir, meine Eltern, meine große Schwester, mein kleiner Bruder – meine Mutter war damals hochschwanger – und ich, 1978 als politisch Verfolgte nach Deutschland eingereist sind, trugen wir ebenfalls unsere festlichen Gewänder, da meine Mutter irgendwo gehört hatte, man müsse sie tragen, damit man wisse, woher wir kommen.

Es war eine Zeit voller Umbrüche: die Machtübernahme Saddam Husseins im Irak, die Islamische Revolution, die das Ende der Monarchie im Iran bedeutete, und der erste Golfkrieg zwischen Iran und dem Irak, der 1980 ausbrach.

Wir sind damals aus dem Irak nach Iran geflüchtet, später nach Frankfurt und von dort weiter nach Hannover geflogen, wo wir für die ersten Monate untergebracht waren, ehe wir nach Wolfsburg weitergeleitet wurden. Zu jener Zeit waren wir die ersten Kurden in Wolfsburg.

Die kurdische Tracht in Deutschland

Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann hatten wir uns hier eingelebt. Ich erinnere mich noch genau, als mir zur Grundschulzeit eine Freundin erzählte, sie freue sich schon so, denn morgen sei Fasching.

Ich dagegen hatte nicht die geringste Idee, was es damit auf sich hatte, bis sie es mir erklärte. Natürlich habe ich zu Hause davon erzählt, wie auch meine Schwester, die berichtete, man müsse sich dafür verkleiden. Da hat unsere Mutter einigermaßen verwundert gesagt: „Wisst ihr was, ihr tragt eure traditionelle Kleidung, dann seid ihr zwei Prinzessinnen.“ Und so haben wir uns dann auch gefühlt.

Jede Tracht, die meisten sind mit unzähligen Pailletten bestickt, ist anders und wird auch etwas anders getragen – das ist von Region zu Region unterschiedlich. Mit etwas Erfahrung vermag man anhand der Tracht sogleich zu erkennen, aus welcher Stadt ihre Trägerin kommt.

In Wolfsburg waren wir mit unseren Trachten jedenfalls einzigartig, und da wir über den ganzen Tag immer wieder hörten, was für schöne Prinzessinnenkleider wir denn trügen, haben wir uns dann auch in unseren paillettengeschmückten Kleidern entsprechend wie Prinzessinnen gefühlt.

Auch die Tochter meiner Schwester hat schon einmal diese Tracht als Faschingskostüm getragen; meinen Söhnen würde das dagegen nicht einfallen. Aber sie ziehen ihre Tracht zum Newroz an – allerdings: Umso älter sie werden, desto weniger ziehen sie sie an. Kinder jedoch mögen das Gewand; schon allein der bunten Farben wegen. Ich selbst ziehe meine Tracht stets zum Feiertag an – mal mit, mal ohne Mütze.

Die Verfasser

Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto der Tracht nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

Alle Artikel anzeigen