Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.
Zuwanderungsgeschichten
Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.
Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.
Griechenland: Die Ikone – Alois P. erinnert sich
Ich komme aus einer griechisch-orthodoxen Familie und auch wenn meine Mutter nicht sehr religiös gewesen ist, so spielten Ikonen in ihrem Leben immer eine Rolle. In unserem Zuhause waren sie stets präsent.
Da sie uns schützen sollten, wo immer wir auch waren, gab mir meine Mutter diese Ikone, als ich im September 1963 im Alter von 18 Jahren über die damals noch existierende Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien nach Deutschland gereist bin. Sie kam, als ich meinen Koffer packte, gab sie mir und sagte, sie werde mir Glück bringen.
Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich der Ikone zunächst nicht wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, habe kein Interesse gezeigt, sie einfach mitgenommen, aber in Deutschland wurde sie für mich zu einem wirklichen Begleiter.
Es ist eine handelsübliche Ikone, aber für mich war sie hier immer wertvoll. Sie zeigt Maria und Jesus, ist außen aus Holz und handbemalt. Ich hatte sie damals auf meiner dreitägigen Reise mit dem Zug dabei und seitdem war sie stets an meiner Seite – sie steht auf meinem Nachttisch. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich in meinem Leben Glück hatte.
Ein Neuanfang in Deutschland
Der Beginn in Deutschland war allerdings ein schwerer: Ich war damals mit dem Zug drei Tage unterwegs, bin in München umgestiegen und weiter Richtung Hannover gefahren. Versehentlich bin ich dann allerdings nicht in Hamburg, sondern schon zuvor in Harburg ausgestiegen – ich habe mich verlesen.
Als ich dann am Hamburger Hauptbahnhof ankam, regnete es und es war kalt. Es war der traurigste Tag in meinem Leben, schließlich hatte ich Freunde, Bekannte und meine Mutter zurückgelassen. Ich war ganz allein und hatte Sehnsucht.
Über die ersten fünf Jahre hinweg hatte ich nur Sehnsucht nach Griechenland; ich wollte immer wieder zurück. Aber ich bin geblieben, habe erst ein Praktikum gemacht, dann ein Studium begonnen, das ich jedoch aus finanziellen Gründen nicht beenden konnte. Aber als eingeschriebener Student hatte ich, anders als meine Frau, eine Arbeitserlaubnis – damals gehörte Griechenland ja noch nicht zur EU.
Als wir hörten, im Volkswagenwerk in Wolfsburg werden gute Löhne bezahlt, sind wir dorthin gezogen – die Ikone war auf allen Etappen dabei. Bei der Volkswagen AG habe ich dann vierzig Jahre gearbeitet.
Wir hatten wirklich Glück in unserem Leben, es ist alles wunderbar verlaufen; wir haben die Welt gesehen und lieben Wolfsburg über alles. In Griechenland fühle ich mich längst nicht mehr wohl, auch wenn wir natürlich noch oft zu unserem Haus am Meer fliegen, um dort Urlaub zu machen. Aber schon nach wenigen Wochen möchte ich zurück nach Wolfsburg. Die Mentalität hat sich verändert, es ist anders geworden zwischen mir und meinen Landsleuten.
Deshalb kam es für uns nie in Frage, wieder zurück nach Griechenland zu gehen, obwohl wir dort eine Rente bekommen, ein Haus haben, wir hingegen hier Miete bezahlen müssen. Doch habe ich die längste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. Mit 18 Jahren bin ich aus Griechenland fort, nun bin ich 75, wir werden sicher hier bleiben.
Die Verfasser
Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.
Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto der Ikone nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.