Im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Studie, wonach der Anteil von Erfinder:innen mit ausländischen Wurzeln im vergangenen Jahrzehnt stetig angestiegen ist. Dadurch konnte ein Innovations-Rückgang in Deutschland verhindert werden. Die Schlussfolgerung der Autor:innen der Studie: Migration fördert das Innovationsreichtum in Deutschland. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Vorjahr (2021), die den Einfluss von Migrant:innen bei der Unternehmensgründung untersuchte.

Auch in der Vergangenheit zeigte sich anhand der (Weiter-)Entwicklung zahlreicher Erfindungen, dass Fortschritt und Innovation auf unterschiedliche Weise mit Migration verbunden sind. Mal betrifft dies die (familiäre) Herkunft eines oder einer Erfinder:in. An anderer Stelle sorgt eine wissenschaftliche und ökonomische Vernetzung für die Migration von Ideen und Produkten. Tatsächlich scheinen viele Erfindungen nur über inter- und transnationale Verbindungen möglich geworden zu sein. Was bedeutet das jedoch für unsere bis heute stark nationalstaatlich geprägte Erinnerungskultur? Im folgenden Beitrag widmen wir uns wichtigen ‚deutschen‘ Erfindungen und werfen dabei einen Blick auf ihre Migrationsgeschichte.

Technikgeschichte als Migrationsgeschichte

Zunächst müssen wir dazu definieren, was Migrationsgeschichte bezogen auf technische Entwicklungen alles bedeuten kann. Allgemein knüpfen Erfindungen an einen bisherigen Technik- und Forschungsstand an. Die Geschichte der menschlichen Innovationen reicht weit zurück und lässt sich nicht an Nationalstaaten festmachen – man denke nur an die Erfindung des Rades.  Ein anderes Beispiel ist die (Weiter-)Entwicklung der Dampfmaschine durch den schottischen Erfinder James Watt. Über das 18. und 19. Jahrhundert hinweg stellte sie eine der Grundvoraussetzungen und Katalysatoren der Industriellen Revolution weit über die Grenzen des britischen Königreiches hinaus dar. Im Ausland wurden dafür nach britischem Vorbild zunächst weitere Dampfmaschinen produziert. Andere, neue Erfindungen bauten darauf auf. Was ist passiert? Als fertiges Endprodukt oder Idee, welche im Ausland kopiert und weiterentwickelt wurde, ist diese Erfindung migriert.

Eine weiterer Schnittpunkt von Technik- und Migrationsgeschichte ist der internationale Austausch, die Migrationsgeschichte von Erfinder:innen sowie internationale Unternehmen, die Produkte in Auftrag geben. Als Wissenschaftler:innen und Pionier:innen ihres bestimmten Interessengebietes arbeiten viele Erfinder:innen bis heute über Landesgrenzen hinweg mit anderen Expert:innen aus aller Welt zusammen. Teilweise sind auch an der konkreten Produktentwicklung mehrere Menschen aus unterschiedlichen Ländern beteiligt. Daraus ergibt sich die Frage, wie man nationale Urheberschaft überhaupt definieren möchte. Was macht eine deutsche Erfindung zu einer deutschen Erfindung? Und welche Bedeutung wird diesen Entwicklungen in ihrem ‚Herkunftsland‘ beigemessen?

Parallele Erfindungen oder nur Kopien?

Nehmen wir als Beispiel die Geschichte der Glühbirne. Allgemein gilt sie als Erfindung des US-amerikanischen Ingenieurs Thomas Edison. Dieser meldete im Jahr 1880 Patent auf seine entwickelte Kohlefaden-Lampe an. Ob Edison tatsächlich die erste funktionstüchtige Glühbirne entwickelte ist bis heute umstritten. Im Laufe seines Lebens stand Edison im fortlaufenden Wettstreit mit Erfindern aus unterschiedlichen Ländern, die alle im Laufe des Jahrhunderts an der Entwicklung einer elektrischen Lampe gearbeitet hatten – oder es zumindest behaupteten. Einer davon war der Hannover Uhrmacher Heinrich Göbel. 1854 entwickelte er nach eigener Aussage eine erste Glühbirne auf die er jedoch kein Patent anmeldete. Bis weit nach seinem Tod äußerten sich viele Deutsche stolz über die Glühbirne als deutsche Erfindung. Inzwischen gilt die Annahme, dass Goebel eine Glühbirne vor Edison entwickelt hatte als unwahrscheinlich. Das ändert jedoch nichts daran, dass zahlreiche aktuelle Berichte in deutschen Print- und Online-Medien weiterhin an der deutschen Urheberschaft der Glühbirne festhalten.

Patentanmeldung der Edison-Glühbirne 1880. Man erkennt im Glaskolben die bis heute für viele (ältere) Glühbirnen charakteristische Fadenkonstruktion, Bild: gemeinfrei.

Produkte und Marken migrieren

Auf wen letzten Endes die Erfindung der ersten Glühbirne zurückgeht, ist nicht abschließend geklärt. Sicher ist, dass international meist Edison als Urheber genannt wird. Nach der Präsentation auf der ersten „Internationale Ausstellung für Elektrizität“ in Paris 1881 setzte sich die Edison-Glühbirne als bis heute weltweit bekanntestes Modell der Glühbirne durch. In den folgenden Jahrzehnten entstanden in unterschiedlichen Ländern Stätten zur Produktion der Edison-Birne. Ein deutsches Unternehmen, das 1883 eigens zu dem Zweck gegründet wurde, war die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität. Heute ist sie nur noch als Marke unter dem Namen AEG (kurz für: Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) bekannt und befindet sich im Besitz des schwedischen Konzerns Electrolux.

Menschen migrieren

Ausgehend von den Experimenten rund um die Glühbirne, entwickelte sich die AEG im Laufe ihrer Geschichte zu einem wichtigen Auftraggeber unterschiedlicher (vorrangig männlicher) Entwickler. Dazu wurden explizit auch Wissenschaftler aus anderen Ländern von dem deutschen Unternehmen angeworben. So konstruierte beispielsweise im Jahr 1887 der russische Ingenieur Michail von Dolivo-Dobrowolsky im Auftrag der AEG einen der ersten Drehstrommotoren. Wie bei vielen anderen handelte es sich im Fall seiner Erfindung um eine Weiterentwicklung verschiedener Vorläufer. So begann die internationale Geschichte zum Bau von Elektromotoren mit der Entwicklung einer ersten Batterie durch den italienischen Physiker Alessandro Volta. Letzter Stand vor der Erfindung des Drehstrommotors waren sogenannte Gleichstrommotoren. Mit Dolivo-Dobrowolskys Motor ließ sich jedoch erstmals im Deutschen Reich Strom über weite Strecken transportieren. Somit ermöglichte er auch die spätere, flächendeckende Elektrifizierung der Stadt Berlin sowie bis Mitte des 20. Jahrhunderts des gesamten Landes.

Neben elektronischen Endprodukten entstanden im Auftrag der AEG bis zu ihrer Auflösung 1996 viele weitere, auch chemische Innovationen. Im Jahr 1916 machte der polnische Wissenschaftler Jan Czochralski im Metall-Labor der AEG eine bahnbrechende Entdeckung: Mit dem bis heute angewendeten Czochralski-Verfahren wandelte er 1916 erstmals polykristallines Silicium in monokristallines Silicium um. Dieses ist beispielsweise in der Mikroelektronik vielseitig einsetzbar. Heute dient es vor allem als Grundmaterial für Computerchips und wird weltweit verarbeitet.

Jan Czochralski war ein polnischstämmiger Chemiker aus der preußischen Provinz Posen. Bis 1929 arbeitete und lebte er in Deutschland. Foto ca. 1910, gemeinfrei.
Mikhail Dolivo-Dobrovolsky 1883: Im selben Jahr floh der damalige Chemiestudent und spätere Ingenieur vor der politischen Verfolgung aus Russland ins Deutsche Kaiserreich. Foto: 1883, gemeinfrei.

Ideen migrieren – internationale Pioniernetzwerke

Etwas klarer als im Fall der ersten Glühbirne lassen sich scheinbar am Beispiel der Luftfahrtgeschichte internationale Zusammenhänge und Urheberschaften aufzeigen. Als ein wichtiger Pionier gilt hier der Erfinder des ersten Gleitfliegers, Otto Lilienthal. Mit einem selbst konstruierten Flugapparat schaffte der Ingenieur aus Vorpommern 1891 den weltweit ersten Segelflug von 20 Metern. Nach seinem tödlichen Absturz mit einem Nachfolge-Modell 1896 gerieten Lilienthals Name und Erfindungen in Deutschland zunächst in Vergessenheit.

Von anderen Pionieren der Luftfahrt jedoch wurden Lilienthals Konstruktionsskizzen aufgegriffen und weiterentwickelt. Teilweise handelte es sich bei ihnen um enge Weggefährten mit denen er intensive Korrespondenzen gepflegt hatte. Teilweise entnahmen sie Lilienthals Ideen aus seiner 1886 erschienenen Publikation „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Bis zum Jahr 1913 entwickelten die US-amerikanischen Gebrüder Wright schließlich das erste Motorenflugzeug – oder? An dieser Stelle gehen die historischen Forschungen wieder auseinander. Waren es wirklich die Gebrüder Wright oder doch der Franke Gustav Weißkopf, der einen ersten Motorenflug vollbrachte?

Otto Lilienthal mit einem selbst konstruierten Flugapparat im Jahr 1894, Foto: Ottomar Anschütz, Lilienthal Museum, Anklam, gemeinfrei.

Erfindungen als Leistung eines Landes?

Eine abschließende Antwort auf die Frage, wer war die oder der Erste in Bezug auf technische Entwicklungen lässt sich in vielen Fällen also nicht sicher finden. Je nachdem, welcher Ausgangspunkt gewählt wird, bauen Erfindungen immer auf einer bereits bestehenden Grundlage auf, die weiterentwickelt und einbezogen werden kann. Dabei machen Innovationen selten an national oder regional definierten Landesgrenzen Halt. Was bedeutet diese Perspektive für die Darstellung von bekannten Erfinder:innen einer Stadt oder eines Landes?

Natürlich sollten den einzelnen Entwickler:innen ihre Leistungen nicht abgesprochen werden.1 Angesichts der vielen parallelen, einander ähnelnden Entwicklungen kann der superlative Titel „erste:r!“ zwar nur selten klar vergeben werden, in der öffentlichen Wahrnehmung soll das nicht die Bedeutung einer Person oder eines Herkunftslandes mindern. Im Hinblick auf die international geprägten Entstehungsbedingungen von Erfindungen scheint es aber angeraten, daneben den Einfluss internationaler Forschungsnetzwerke, global agierender Unternehmen und Auftraggeber:innen deutlicher hervorzuheben. Damit lassen sich nicht nur viele offene Fragen klären. Es kann auch deutlich aufgezeigt werden, welche Chancen der innovative Austausch über Landesgrenzen hinweg bietet.

1Im Übrigen ermöglicht der Einbezug soziokultureller Entstehungsumstände auch die Rolle von Frauen beispielsweise in der Technikgeschichte klarer herauszustellen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die meisten deutschen wie ausländischen Erfinderinnen heute in Vergessenheit geraten. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Teilweise hängt die Unterrepräsentation mit männlich dominierten Geschichtsdarstellungen zusammen. Oft erschwerten aber schon repressive Urheberrechtsgesetze sowie eingeschränkte Ausbildungs-, Arbeits- und Marketingmöglichkeiten von Frauen einen Werdegang als Entwicklerin. 

Eine kurze Vorstellung einiger deutscher Erfinderinnen finden Sie hier: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/erfinderinnen-naturwissenschaft-technik-100.html und https://www.dw.com/de/deutsche-frauen-und-ihre-erfindungen/a-1926978. 
Titelbild: Lichterkette mit Glühbirnen vor dem Berliner Abendhimmel, Foto: pixabay, lizenzfrei. 

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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