Sind DDR-Flüchtlinge oder Ausgebürgerte aus der DDR nach Westdeutschland Migrant:innen? Wir sprechen in diesem Fall von Binnenmigration. Zwar erlebten die Migrant:innen keine sprachliche Veränderung und geografisch war die Distanz nicht groß. Dafür migrierten die Menschen in ein politisch, sozioökonomisch und kulturell völlig anderes System, das ihnen nicht vertraut war. Sie migrierten von der Diktatur in eine Demokratie.
Flucht aus der DDR
Die Menschen, die bis 1989 die DDR verließen, nahmen dafür Repressionen und teilweise lange Haftstrafen in Kauf. Flüchtlinge riskierten Leib und Leben. Zudem verließen nicht alle Migrant:innen freiwillig die DDR: Tausende wurden aus politischen Gründen inhaftiert und nach einer Zeit im Gefängnis oftmals von der Bundesrepublik freigekauft. Andere wurden ausgewiesen oder – wie der Liedermacher Wolf Biermann 1976 – nach einer Auslandsreise nicht wieder zurück in die DDR gelassen. Möglichkeiten einer legalen Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik gab es erst im Vorfeld der Wiedervereinigung 1990.
Die Gründe, weshalb Menschen die DDR verlassen wollten, waren vielfältig. Von den vor dem Berliner Mauerbau Geflüchteten gaben 56 Prozent politische Gründe an, darunter nannten sie zu 29 Prozent am häufigsten als Grund ihre „Ablehnung politischer Betätigung“, die „Ablehnung von Spitzeldiensten“ sowie „Gewissensnotstände und Einschränkung von Grundrechten“. Es folgten mit 15 Prozent persönliche oder familiäre Gründe, mit 13 Prozent wirtschaftliche Gründe, meistens waren dies „Zwangskollektivierung“ und „Verstaatlichung“. Zehn Prozent gaben den Wunsch nach besseren Einkommens- oder Wohnverhältnissen an. Diese Motive blieben bis in die letzten Jahre der DDR ähnlich.
Die Druckmaschine des Wilhelm Knabe
Für viele spielte das DDR-Regime auch nach ihrer Flucht noch eine zentrale Rolle in ihrem Leben. So spiegeln beispielsweise die Migrationsgeschichten von Wilhelm Knabe und Roland Jahn zwei Wege wider, die Demokratiebestrebungen in ihrem Herkunftsland vom Westen aus zu unterstützen.
Wilhelm Knabe wurde 1923 in Arnsdorf (Sachsen) geboren. Aus dem Krieg und der Gefangenschaft kehrte er 1945 als überzeugter Pazifist zurück und trat aufgrund seines christlichen Glaubens in die CDU ein. Bis 1950 studierte er Forstwirtschaft an der Technischen Hochschule Dresden, 1957 wurde er promoviert. Knabe nahm aus politischer Überzeugung an keiner Wahl in der DDR teil. Auch lehnte er aus pazifistischen Gründen ab, als Reserveoffizier zur Nationalen Volksarmee zu gehen.
1959 entschied der Familienvater sich dann, mit seiner Frau und seinen Kindern aus der DDR zu fliehen. Zu dieser Zeit war die Berliner Mauer noch nicht gebaut, die Grenzen zwischen Ost und West waren noch durchlässig. Doch eine legale Ausreise aus der DDR war nur mit langen Antragsfristen und einer Zustimmung der Behörden möglich. Die Familie ließ sich nach ihrer erfolgreichen Flucht im Ruhrgebiet nieder.
Später ging Wilhelm Knabe in die Politik und gründete unter anderem die Partei „Die Grünen“ mit. Von 1987 bis 1990 war Knabe Mitglied des Deutschen Bundestages. Als Teil des Innerdeutschen Ausschusses suchte er den Kontakt zu Umwelt- und Friedensgruppen in der DDR. Er schmuggelte eine Druckmaschine zur Umweltbibliothek im Bezirk Prenzlauer Berg, der Zentrale der Umweltgruppen in der DDR. Über diese Maschine druckten die Mitglieder der Umweltbibliothek heimlich Flugblätter, Aufrufe und nicht genehmigte Texte. Sie umgingen damit die Zensur. Druckmaschinen waren in der DDR im Privatbesitz nicht erlaubt.
Zum Gehen gezwungen
Eine gänzlich andere Migrationsgeschichte erlebte Roland Jahn, der 1953 im thüringischen Jena geboren wurde. Seine Opposition gegen die Politik der DDR begann während seines Studiums in Jena. In verschiedenen Aktionen machte er auf die staatliche Zensur in der DDR und auf den Tod seines besten Freundes Matthias Domaschk in einem Gefängnis der Staatssicherheit aufmerksam.
1982 wurde er zu 22 Monaten Haft wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ und „Missachtung staatlicher Symbole“ verurteilt, kam aber nach internationalen Protesten und Berichten in bundesdeutschen Medien wieder frei. Im Jahr darauf gründete er mit anderen Oppositionellen die Friedensgemeinschaft Jena, die unter anderem politische Partizipation einforderte.
Am 8. Juni 1983 bürgerte die DDR Jahn gewaltsam aus. Unter einem Vorwand bestellte man ihn zum Wohnungsamt, wo ihn ein Stasi-Kommando festnahm, in Knebelketten zum Grenzbahnhof Probstzella brachte und in ein Abteil des Interzonenzugs nach Bayern einschloss.
Die Macht des Fernsehens
In Westdeutschland begann Jahn als freier Journalist zu arbeiten und produzierte unter anderem Beiträge für das ARD-Magazin Kontraste über Menschenrechtsverletzungen und die Oppositionsbewegung in der DDR. 1989 begleitete er mit Fernsehbeiträgen in der Bundesrepublik die Friedliche Revolution in der DDR, die großenteils auch östlich der deutsch-deutschen Grenze empfangen werden konnten und für eine Öffentlichkeit der Geschehnisse sorgten. Die DDR-Medien zensierten jeglichen Bericht über die Proteste. Roland Jahn schmuggelte Videokameras in die DDR. Er erinnert sich:
Weil ich wusste: Fernsehen, das ist genau das, was wichtig ist, was bis in den Osten reinstrahlen muss, was die Massen erreicht. Und nicht nur die Untergrundpresse, die immer dieselben erreicht. Das Medium Fernsehen wurde für mich immer wichtiger. Ich habe in der Redaktion „Kontraste“ angefangen zu arbeiten, die für die ARD gesendet hat – und versucht, diese illegal gedrehten Videos aus der DDR unterzubringen. Fernsehen hat auch Mut gemacht, endlich auf die Straße zu gehen. Auch die Aufnahmen vom 9. Oktober, von der legendären Demonstration in Leipzig, sind mit einer Videokamera gemacht worden, die ich rübergeschleust habe. Die Freunde haben diese Aufnahmen dort mit viel Mut und Risiko gemacht. Sie wurden in den Westen geschmuggelt, und wir haben sie ausgestrahlt, in die Wohnzimmer der DDR hinein.
Roland Jahn
Titelfoto: Mauerverlauf Bouchéstraße / Harzer Straße in Berlin, 18. November 1989, Foto: Florian Schäffer, Wikipedia gemeinfrei