Was der Angriffskrieg gegen die Ukraine für jüdische Gemeinden in Deutschland bedeutet
von Liane Czeremin
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in kürzester Zeit eine Fluchtbewegung ausgelöst, die in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beispiellos ist. Die Aufnahme der geflohenen Menschen und das Leid, das über die ukrainische Bevölkerung hereingebrochen ist, stellen auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland vor große Herausforderungen.
200.000 Jüdinnen und Juden sind seit 1991 als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert. Etwa 90 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland haben infolgedessen einen familiengeschichtlichen Hintergrund in diesen Staaten. Laut Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland haben heute 45 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Wurzeln in der Ukraine.
„Wir verlieren einen Traum“
Diana Sandler, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde im Landkreis Barnim, berichtet uns in einem Telefonat über die derzeitige Situation in Brandenburg. Wir erreichen sie am zweiten Tag des jüdischen Purim-Festes, das dieses Jahr am 16. und 17. März stattfindet. Eigentlich ist Purim ein fröhliches, ausgelassenes Fest, vergleichbar mit dem rheinländischen Karneval. Bei der Frage, wie die Situation in der Gemeinde ist, geht es nun aber um ganz andere Dinge. Diana Sandler:
„Es ist eine Katastrophe, alle unsere Mitglieder sind verletzt und traurig, egal ob ihre Familien aus der Ukraine, Russland, Kasachstan, Aserbaidschan oder Kirgistan kommen. Fast alle haben Familienmitglieder, Freunde oder ehemalige Schulkameraden in Russland oder der Ukraine und regelmäßigen Kontakt dorthin. Es ist eine Tragödie für alle von uns. Und wir verlieren einen Traum: Moskau. Diese Stadt war immer etwas ganz Besonderes für uns. Dieser Konflikt ist unmöglich, wir verlieren den Verstand. Viele weinen, einige sind hysterisch. Deshalb haben wir psychologische Unterstützung organisiert.“
Schon einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion hat Diana Sandler auf ihrer Facebook-Seite eine lange Liste an Unterstützungsangeboten gepostet, sowohl für Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Brandenburg als auch für neu ankommende Geflüchtete und für Menschen in der Ukraine selbst.
Koordination der Hilfe für ganz Brandenburg
Sandler ist seit 1997 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde im Landkreis Barnim, in dem rund 500 Jüdinnen und Juden leben, 167 davon als eingetragene Mitglieder der Gemeinde. Gleichzeitig ist sie unter anderem Beauftragte gegen Antisemitismus und Beauftragte für den Dialog mit den Religionsgemeinschaften im Land Brandenburg, Vorsitzende des Migrations- und Integrationsrats des Landes Brandenburg (MIR e.V.) und Geschäftsführerin des Vereins „DIAMANT“, der sich um die soziale Integration von Zuwanderern im Landkreis Barnim kümmert. Diana Sandler hat nun die Koordination der Hilfsmaßnahmen für ganz Brandenburg übernommen und arbeitet auch darüber hinaus mit zahlreichen Partnerorganisationen zusammen, vor allem in Thüringen und Berlin. Gemeinsam mit 118 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in ganz Brandenburg, darunter Psychologinnen und ausgebildete Seelsorger, hat sie ein telefonisches Hilfenetz aufgebaut. Tag und Nacht leisten die Mitwirkenden Unterstützung am Telefon, per Video und im Chat.
Holocaust-Überlebende besonders belastet
Laut Diana Sandler brauchen Holocaust-Überlebende und ihre Familien darüber hinaus spezielle Unterstützung. Bei ihnen können Traumata wieder aufbrechen oder überhandnehmen. Diana Sandler: „Holocaust-Überlebende fühlen durch diesen Krieg noch einmal anders, sind auf andere Weise verletzt. In Brandenburg sind es 112 Senioren, für die eine Extra-Betreuung organisiert wird. Dabei arbeiten wir zum Beispiel auch mit den Pflegediensten vor Ort zusammen.“
Die Helferinnen und Helfer können auf ein breites Kontaktnetz zurückgreifen, das in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entstanden ist. Auch in dieser haben Überlebende der Schoah besondere Unterstützung benötigt. Diana Sandler ist stolz auf ihre Mithelfer, seit Ausbruch der Pandemie sei bislang noch keiner der Senioren an dem Virus erkrankt.
Seelsorge für Menschen in der Ukraine
Über ihre vielfältigen Kontakte hat Diana Sandler außerdem dafür gesorgt, dass die eingerichtete Mailadresse, über die um psychosoziale telefonische Hilfe gebeten werden kann, auch in ukrainischen Städten bekannt gemacht wird, etwa in der Stadt Dnjeprpetrowsk, aus der Diana Sandler selbst stammt.
Abgesehen von der psychosozialen Unterstützung fühlen sich Diana Sandler und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter dazu verpflichtet, Informationen über den Krieg weiterzugeben. Diana Sandler: „Wir arbeiten präventiv gegen Konflikte innerhalb der Gemeinschaft. Einige Leute glauben der Propaganda aus der russischen Presse und halten den Krieg für eine Revolution in der Ukraine. Wir vermitteln seriöse Informationen, erklären die Position der deutschen Seite und erläutern auch unsere Position in der jüdischen Gemeinde.“
Praktische Hilfe in allen Bereichen
Darüber hinaus wird praktische Hilfe für ankommende Flüchtlinge in allen Bereichen geleistet, die man sich vorstellen kann. Und es werden Lieferungen an die Grenze zur Ukraine und in die Ukraine selbst organisiert. Diana Sandler hat Zahlen parat: 8000 Liter koscheres Halal-Essen wurde zur Verteilung an den zentralen Bahnhöfen und für geflüchtete Familien gekocht, auch für muslimische Kriegsflüchtlinge. 100 Tonnen Hilfsmittel und Lebensmittel wurden in die Ukraine gebracht. Eine Firma aus Thüringen hat allein zwei Tonnen Kleidung gespendet, die in Berlin am Bahnhof verteilt wurde. Ihr Netzwerk vermittelt Kontakte zu ukrainischsprachigen Ärzten und Psychologen und hilft auch bei Problemen mit Geldüberweisungen. Zudem ist es ihr wichtig, falschen Bildern von Deutschland gleich zu Beginn entgegenzuwirken: „Einige glauben, dass in Deutschland nur reiche Menschen leben und ihre Hilfe selbstverständlich sei. Dem wirken wir entgegen. Und wir motivieren dazu, sich einzubringen und auch selbst etwas zu geben.“
Breites bundesweites Netzwerk
Wie das alles funktioniert? Diana Sandler kann auf ein Netzwerk vertrauen, das sich über Jahre immer weiter ausgeweitet hat. Vor allem durch ihre bisherige Integrationsarbeit und durch das Engagement gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus hat sich eine langjährige Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen entwickelt, etwa mit dem ostdeutschen Dachverband DaMOst oder dem Bundesverband russischsprachiger Eltern BVRE. Und sie sagt: „Ich habe die besten Sponsoren und die besten Helfer der Welt. Sie alle verdienen hinterher eine Medaille.“
Das Purim-Fest hat ihre jüdische Gemeinde trotz des Krieges gefeiert, das gehöre sich so. Zusätzlich aber wurden tausend Purim-Pakete mit den klassischen Hanan-Gebäcktaschen gepackt und an Bahnhöfen an alle geflüchteten Familien verteilt, die eines wollten, ganz gleich, welcher Religion sie angehörten. Bei Nachfragen haben die Helferinnen und Helfer erklärt, um was es sich bei dem Fest und dem Gebäck handelt. „Mit den Paketen leisten wir sogar noch Präventionsarbeit gegen Antisemitismus. Ich muss Ihnen ja nicht erklären, wieso in der Vergangenheit so viele Juden aus der Ukraine emigriert sind.“
Mehr Informationen und Kontakt: http://mir-brandenburg.de/UKRAINE-KRIEG-KRISENHILFE/
Die Initiative sucht aktuell auch finanzielle Unterstützung für ein niedrigschwelliges Projekt zur Sprachförderung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen. Es soll vor allem bei der Kommunikation mit Ärzten, in Krankenhäusern und auf Ämtern helfen.
Liane Czeremin ist wissenschaftliche Referentin und Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Ihr Artikel, den wir hier zuerst veröffentlichen, erscheint auch in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Gegen Vergessen – Für Demokratie.