Bericht über eine Podiumsdiskussion am 18.6.2022 in Erfurt
„Hier geht es nicht um ein Gegeneinander. Wir ergänzen uns. Wir gehören zusammen!“ Diese Worte von Michael Sia, dem Vorsitzenden des Afrikanisch-Deutschen-Vereins für Kultur und Bildung könnten gut den generellen Konsens auf dem Podium im Erfurter „filler“ – dem Büro der Gewerkschaftsjugenden – darstellen. Am Nachmittag des 18. Juni versammeln sich hier knapp 25 Personen im Saal des einstöckigen Gebäudes. Sie kommen, um einer Diskussion zwischen Vertreter*innen örtlicher Migrant*innenvereine und (post-)migrantischer Jugendinitiativen zuzuhören und selber mitzudiskutieren. Das Thema: Effektiv Gesellschaft verändern. Im Rahmen des Kompetenznetzwerks für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft und organisiert vom Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst), soll es darum gehen, wie aktivistisch ausgerichtete Initiativen und im gesetzlichen Rahmen verankerte Vereine am besten ihre jeweiligen Stärken nutzen können, wie ihr jeweiliges politisches Engagement aussieht und wie sie gemeinsam auf eine bessere Gesellschaft hinarbeiten können.
„Da gibt es keine Trennung!“ – Oder doch?
Die Frage nach den Differenzen zwischen politisch aktiven, progressiven Vereinen bzw. NGOs auf der einen und oftmals radikaler auftretenden (Jugend-)Initiativen ist nicht neu. Aber gerade in Thüringen könnte sie besonders relevant sein. Dem Bundesland wird oftmals – auch von lokalen politisch aktiven Menschen – eine relativ schwache Zivilgesellschaft diagnostiziert. Viel ländlicher Raum, wenige Aktive, Wegzug vieler junger Menschen – die verschiedenen linken, progressiven oder generell an gesellschaftlichen Verbesserungen interessierten Gruppen in Thüringen können es sich nicht wirklich leisten, zerstritten zu sein. Und trotzdem gibt es verständlicherweise da und dort immer mal wieder Auseinandersetzungen: Klimaaktivist*innen grummeln über die als manchmal zu staatstragend wahrgenommenen Umweltverbände, große Trägervereine beschweren sich über beißende Redebeiträge antifaschistischer Gruppierungen und einige Kompromisse, die Vereine mit der Politik aushandeln, gehen vielen Initiativen nicht weit genug. Im Großen und Ganzen eine ziemlich normale Lage, die sich bundesweit und wahrscheinlich weit darüber hinaus überall vorfinden lässt. Aber nichts destotrotz kann sie im Zweifelsfall lang geschmiedete Bündnisse oder gemeinsame Kämpfe untergraben.
Auch bei Migrant*innenorganisationen zeigen sich ähnliche Unterschiede
Migrant*innen-Vereine sind geprägt von älteren Menschen mit Migrationsgeschichte. Viele, die heute in den Vorständen sitzen, sind bereits seit Jahrzehnten aktiv. Sie haben hunderte Kontakte in Zivilgesellschaft und Politik geknüpft oder setzen sich in gewählten Gremien wie den Ausländer- oder Integrationsbeiräten ein.
Junge Menschen finden sich hier weniger häufig. Die neu gegründete Gruppe „Jugendliche ohne Grenzen“ Thüringen ist eine von wenigen (post-)migrantischen Jugendinitiativen in Thüringen. Die hier organisierten jungen Menschen sind oftmals erst seit wenigen Jahren politisch aktiv, aber deshalb nicht weniger gebildet oder naiver als die älteren Vertreter*innen aus den Vereinen. Sie wissen klar, was sie für Veränderungen wollen und wie sie diese erreichen können. Gesellschaftliche Veränderung kommt von der Straße, so viel ist bei „JoG“ klar. Gesellschaftliche Verbesserungen kommen zu langsam und zu selten. Mit politischen Aktionen soll der Weg in eine bessere Welt angeschoben werden.
Es gibt keinen Königsweg
Auf dem Podium im Erfurter „filler“ spürt man von großen Trennungen allerdings wenig. Schon der Ansatz der Veranstaltung, der eine Trennung zwischen Vereinen und Initiativen, zwischen Vereinsarbeit und Aktivismus suggeriert, erzeugt Widerspruch aus dem Publikum: „Da gibt es keine Trennung! Vereinsvertreter*innen sind Aktivist*innen und oftmals umgekehrt.“ Auch die Diskutant*innen sind sich einig: wollen wir diese Gesellschaft zum Besseren verändern, gibt es nicht den einen Königsweg.
Trotzdem haben Aktivist*innen und Vereinsvertreter*innen teilweise unterschiedliche Methoden. Oumar Diallo, auf dem Podium für die „Jugendlichen ohne Grenzen Thüringen“, macht klar: „Aktivismus bedeutet auch stören. Wir müssen unangenehm sein. Und Vereine können nicht immer alle Mittel des Protests nutzen, gerade wenn sie von Fördergeldern abhängig sind.“ Auch Amin Sarkosh, Mitarbeiter beim „House of Resources“ Thüringen und Vertreter des Migranten Omid Verein – MOVE e.V. pflichtet bei: „Wir können nicht alles machen, was die „Jugendlichen ohne Grenzen“ machen.“ Vereine hätten aber andere Stärken: etablierte Strukturen, Unterstützungsnetzwerke und viele Mitglieder, sowie die Möglichkeit zu politischen Inhalten und Methoden zu bilden. „Wir können den Initiativen die Werkzeuge geben, die sie brauchen.“, bekräftigt er.
Sultana Sediqi von Jugendliche ohne Grenzen Thüringen. Foto: DaMOst
Modelle der Zusammenarbeit
Bei der Diskussion wird relativ schnell klar, in welchen Aufgabenbereichen die Teilnehmer*innen ihre Organisationen sehen. Die Vereine bieten die Grundlagen, Strukturen und Mitglieder, um zum einen viele Menschen mit Migrationsgeschichte zu erreichen, zu binden und politisch zu bilden und Initiativen zu unterstützen, z.B. mit Technik für Demonstrationen und Aktionen oder mit dem Stellen von Anträgen oder Räumlichkeiten. Weiterhin sind sie eine Art Sicherheitsnetz für die Initiativen, die Unterstützer*innennetzwerke organisieren können.
Initiativen schaffen Aufmerksamkeit
Initiativen schaffen durch Aktionen verschiedener Art Aufmerksamkeit für unterschiedliche Themen und verschieben den öffentlichen Diskurs. Da sie nicht z.B. auf die Unterstützung von Fördergeldern angewiesen sind, können sie aktionistischer sein. Sie können schärfere Kritik an Institutionen verschiedenster Art formulieren und eine andere Zielgruppe erreichen. Ihre Aktionen sollen die öffentliche Debatte und die Politik im besten Fall vor sich hertreiben. Währenddessen können die Vereine ihre Kontakte nutzen, um Plätze für Migrant*innenorganisationen verschiedenster Art an den Verhandlungstischen der Politik zu schaffen. Ohne Zweifel keine neue Strategie. Aber eine, die immer wieder unter verschiedensten Umständen in den letzten Jahrzehnten Früchte getragen hat.
Aktivistische Initiativen und Vereine vernetzen und Zusammenarbeit verstetigten
Ob diese Strategie sich auch zwischen den Thüringer Migrant*innenvereinen und (post-)migrantischen Jugendinitiativen etablieren kann, wird sich noch zeigen müssen. „Die Ansätze und Fragen, die wir hier geschaffen und besprochen haben, müssen wir weiter ausarbeiten.“, sagt Sultana Sediqi. Sie nahm ebenfalls für die Jugendlichen ohne Grenzen an der Podiumsdiskussion teil. Es müsse jetzt ein Prozess begonnen werden, bei dem aktivistische Initiativen und Vereine vernetzt würden und eine Zusammenarbeit verstetigt werden. Im Zuge der vielen überlappenden und ineinander verzweigten Krisen – der Ukraine-Krieg, Klimakrise, das Wiederaufleben faschistischer Ideologien, globale Ausbeutung, Rassismus in Polizei und Gesellschaft allgemein und viele weitere – sei es gerade in Thüringen als Hochburg der AfD und Ostdeutschland allgemein wichtig, eine starke Bewegung aus Migrant*innen und Menschen mit Migrationsgeschichte zu etablieren. Dafür müsste sich aber noch weiter verständigt werden und es brauche gemeinsame Strukturen für den Austausch und das Erarbeiten gemeinsamer Ziele. Gerade Dachverbände wie DaMOst oder das Landesnetzwerk der Migrant*innenorganisationen – MigraNetz Thüringen e.V. könnten hierbei eine wichtige Rolle als Brückenbauer*innen spielen.
Wie eine genaue Zusammenarbeit aussieht, muss also noch ausgehandelt werden. Dass die verschiedenen Organisationen von jungen und alten Menschen mit Migrationsgeschichte in Thüringen dafür bereit sind, steht aber außer Frage.
Titelfoto: Einladung zur Diskussion am 18.6.2022 in Erfurt "Effektiv Gesellschaft verändern"