Auch wenn ich mich in meinen Texten und meiner Forschung fast ausschließlich mit der deutschen Christdemokratie und dem Konservatismus beschäftige, habe ich von kaum einer Person so viele Biographien von vorne bis hinten durchgelesen wie von Willy Brandt. Das mag daran liegen, dass über ihn sehr viel veröffentlicht wurde. Es liegt aber auch daran, dass Brandt in verschiedenen Hinsichten unter den Kanzlern der Bundesrepublik eine ungewöhnliche Rolle spielte. Er war der erste SPD-Kanzler der Nachkriegszeit. Darüber hinaus war er weitaus weniger ein klassischer Machtpolitiker als die meisten seiner Vorgänger und Nachfolger. Während Adenauer, Schmidt, Merkel, Schröder und mit Abstrichen sicher auch Kohl eine eher praktische Herangehensweise an Politik hatten, war Brandt in vielerlei Hinsicht ein Idealist, was zugleich sowohl ein Teil seiner Größe als Politiker wie auch ein wesentlicher Grund seines Scheiterns als Kanzler war. Außerdem ist er bis heute der einzige Bundeskanzler, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Damit kommen wir auch zu dem Grund, warum dieser Beitrag eben in diesem Blog und nicht in den Demokratiegeschichten steht. Schauen wir uns einmal kurz eine Passage seiner Rede an, die er bei der Verleihung des Nobelpreises hielt:

„Wir sind hier in Fridtjof Nansens Land. Seine Hilfe für Kriegsgefangene, Flüchtlinge, Hungernde bleibt ein großartiges Beispiel. Auch im übertragenen Sinne gilt seine Mahnung: ‚Beeilt Euch zu handeln, ehe es zu spät ist, zu bereuen.‘”

Der Preis wurde in Oslo verliehen, also machte es Sinn, einen norwegischen Nationalhelden zu zitieren. Aber dahinter steckt viel mehr. Mit diesem Zitat, welches Brandt auch auf Norwegisch vortrug, erzählte er einen Teil seiner eigenen Geschichte, die Einfluss auf sein Leben haben sollte: seine Zeit als politischer Flüchtling in Norwegen.

Jugend und Ausbildung

Aber der Reihe nach: Willy Brandt kam am 18. Dezember 1913 in Lübeck zur Welt, also kein Jahr bevor das alte Europa auf den Schlachtfeldern an der Somme, in Verdun, am Isonzo und Gallipoli untergehen sollte. Als Herbert Frahm kam er in einem Arbeiterhaushalt unehelich zur Welt. Den Vater lernte er persönlich nie kennen. Die Mutter war mit der Erziehung ihres Sohns überfordert, die eigentliche Bezugsperson war sein Stiefgroßvater Ludwig Frahm.

In der Schulausbildung zeigte er sein Können. Schließlich absolvierte er im Jahr 1932 sein Abitur. Er hatte das Ziel, Journalist zu werden. Aber schon zu dieser Zeit zeigte sich sein besonderes Interesse an der Politik. Über den Großvater kam er zur SPD und wurde von dem Lübecker Parteiführer und Reichstagsabgeordneten Julius Leber gefördert. 1930 trat er der SPD bei, die ihm aber politisch nicht weit genug links stand. Schon 1931 verließ er die Partei bereits wieder und wurde Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), die sich zwischen der SPD und den Kommunisten positionierte.

Leben im norwegischen Exil

Die Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 und ihre Folgen brachten Herbert Frahm in potentielle Gefahr. Die SAPD wurde aufgelöst und Brandt sah sich gezwungen aus Deutschland zu fliehen, um am Aufbau der Auslandsorganisation der SAPD in Oslo mitzuwirken. Hier nahm er einen neuen Namen an, unter dem er für den Rest seines Lebens bekannt sein sollte: Willy Brandt. Ein dort begonnenes Studium schloss er nie ab. In diesen Jahren veränderte sich auch das weitere Privatleben Brandts und er begann in Norwegen eine Familie zu gründen. Die erste Ehe zerbrach nach einigen Jahren. Im Jahr 1948 heiratete er schließlich die Sozialistin Rut Bergaust, mit der er 32 Jahre verheiratet bleiben und drei Kinder haben sollte.

In den folgenden Jahren sollte Brandt auch einige Male verdeckt nach Deutschland reisen. Er sammelte Informationen über die Lage im Land. Bis Kriegsende blieb er aber meist in Norwegen.

Rückkehr nach Deutschland – Willy Brandt macht Karriere in Berlin

1945 kam Brandt endgültig zurück nach Deutschland – mit einem norwegischen Pass und als norwegischer Militärjournalist. In Berlin begann er aber schnell, sich wieder in der Politik zu engagieren. 1949 wurde er als Berliner Abgeordneter in den ersten Deutschen Bundestag gewählt. 1950 wurde Brandt zugleich ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und schnell zu einem engen Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter. Fünf Jahre später wählte man ihn zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses und nach dem frühen Tod von Reuters Nachfolger Otto Suhr 1957 auch zum Regierenden Bürgermeister der Freien Stadt (West-)Berlin.

Brandt wurde in diesen Jahren immer mehr zu einem Hoffnungsträger der SPD auf Bundesebene. Als der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer entschied, 1961 nicht mehr als Kanzlerkandidat bei der anstehenden Bundestagswahl anzutreten, wurde Brandt dazu bestimmt, gegen den amtierenden Kanzler Konrad Adenauer zu kandidieren. Brandts Chancen galten als gering. Mitten in der Wahlkampfzeit überschlugen sich jedoch die welthistorischen Ereignisse. In den Morgenstunden des 13. Augusts 1961 begannen Pioniereinheiten der ostdeutschen Streitkräfte die Grenzen abzuriegeln. Die Berliner Mauer entstand und zementierte im wahrsten Sinne des Wortes die deutsche Teilung. Da Adenauer eher zögerlich reagierte, überließ er Brandt die Bühne, der sich in den darauffolgenden Monaten einen Namen als Führungsfigur machen konnte. Zum Regierungswechsel führte die Wahl zwar nicht, aber das Ergebnis der SPD steigerte sich deutlich. Auch 1965 führte er die SPD in die Wahl und schrammte nur knapp an der 40%-Marke vorbei. Für die Übernahme der Regierungsgewalt reichte es aber nicht, da auch die Union unter Bundeskanzler Erhard ein sehr gutes Ergebnis erzielte und sich die FDP für eine Weiterführung der Koalition mit den Unionsparteien entschied.

Willy Brandt als Zielscheibe des politischen Gegners

In ihrem Vorgehen gegen Brandt setzte die Union, insbesondere unter der Führung Adenauers, auf einen klaren Kurs und scheute sich auch nicht vor persönlichen Angriffen. Besonders brisant waren die immer wieder getätigten Anspielungen auf seine uneheliche Geburt und auf seine Flucht aus Deutschland im Jahr 1933. Die Bezeichnung des “Herrn Brandt alias Frahm” war eine Anspielung auf seine Herkunft und auf die Tatsache, dass er anders als die meisten Deutschen die 30er Jahre und den Krieg nicht in Deutschland verbracht hatte. Man versuchte seine Rolle im Widerstand und seine Flucht verächtlich zu machen, da er die Diktatur nicht selbst „durchlitten“ habe, sondern diese Zeit im Exil verbrachte. In der Bundesbevölkerung, die sich noch gut an die Schrecken des Bombenkrieges, an die Zerstörung der Städte und an die Not der späten Kriegsjahre erinnern konnten, fielen diese Bilder auf fruchtbaren Boden. Insbesondere Brandts enger Mitarbeiter und Vertrauter Egon Bahr wies stets darauf hin, wie sehr Brandt diese Angriffe persönlich trafen.

Vizekanzler und schließlich Kanzler

1966 kam für Brandt aber eine neue Chance. Bundeskanzler Erhards Regierungskoalition zerbrach und der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger formte die erste Große Koalition – mit Brandt als Vizekanzler und Außenminister. In den folgenden drei Jahren wurden viele der Grundlagen dessen gelegt, was schließlich als „Neue Ostpolitik“ bekannt werden sollte.

Bei der Bundestagswahl 1969 wurde die CDU zwar wieder mit Abstand stärkste Kraft. Eigentlicher Wahlsieger war aber die SPD, die ihr bisher stärkstes Ergebnis einfuhr. Gemeinsam mit dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel einigte sich Brandt auf die Bildung einer sozialliberalen Koalition. Bereits in seiner ersten Rede vor dem Bundestag gab der neue Regierungschef seine Devise aus: Deutschland solle “mehr Demokratie wagen”. Damit war ein vermeintlich neues Kapitel in der Entwicklung der jungen Bundesrepublik aufgeschlagen. Die Koalition führte Liberalisierungen im Familien-, Straf- und Wahlrecht durch, die unter einer unionsgeführten Regierung nur schwer möglich gewesen wären. Gleichzeitig zeigten sich aber auch Brandts Führungsschwäche sowie eine gewisse Konfliktscheue. Ein konstruktives Misstrauensvotum der CDU überstand er – wohl aufgrund von Bestechungen einzelner Unionsabgeordneter durch die Stasi –, die Bundestagswahl 1972 gewann er deutlich. Bereits im Jahr 1974 war Willy Brandt aber zusehends amtsmüde und die SPD hatte mit sinkenden Umfragewerten und schlechten Ergebnissen bei Landtagswahlen zu kämpfen. Als herauskam, dass Brandts persönlicher Referent Günter Guillaume ein ostdeutscher Spion war, zog Brandt die Reißleine und erklärte seinen Rücktritt. Als Folge wurde Helmut Schmidt als neuer Kanzler gewählt.

Willy Brandts Ostpolitik

Die mit Willy Brandt eigentlich verbundene Leistung ist die Neuausrichtung der deutschen Ostpolitik. Man könnte sehr viel darüber schreiben. Ich will sie auf einen der zentralen Momente reduzieren. Der Kniefall von Warschau war eben gerade deshalb so bedeutend, da man Brandt nicht vorwerfen konnte, sich in der NS-Zeit mitschuldig gemacht zu haben. Die Botschaft wurde maßgeblich dadurch verstärkt, dass mit Brandt jemand auf die Knie fiel, der von Anfang an die Nazis abgelehnt hatte und aufgrund dieser Tatsache ins Ausland und in den Widerstand geflohen war.

Leben nach der Kanzlerschaft

In den Jahren nach 1974 blieb Brandt noch 13 Jahre SPD-Vorsitzender und darüber hinaus Mitglied des Deutschen Bundestags. Er war auch weiterhin eine laute Stimme der politischen Linken. So unterstützte er die Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre und stellte sich gegen den Nato-Doppelbeschluss, was schließlich auch zum Bruch der sozialliberalen Koalition von Bundeskanzler Schmidt führen sollte. Von 1976 bis zu seinem Tod war er zudem Präsident der Sozialistischen Internationale. Willy Brandt starb schließlich im Jahr 1992 im vereinten Deutschland. Er selbst hatte die Wiedervereinigung im Unterschied zu anderen führenden SPD-Politikern entschieden bejaht. Es war zusammengekommen, was zusammengehört.

Willy Brandt – eine Teilwürdigung

Erwarten Sie bitte keine allgemeine Würdigung der Person Willy Brandt an dieser Stelle. Das wird man in keinem kurzen Blogbeitrag machen können. Auch seine Stärken und Schwächen als Person und als Politiker müssen an anderer Stelle noch einmal behandelt werden. Auch unabhängig von diesen Bewertungen wird man sagen können, dass mit der Wahl Willy Brandts ein Paradigmenwechsel in der bundesrepublikanischen Geschichte einherging. Brandt war Vertreter einer neuen Generation und vor allem der erste Bundeskanzler, der überhaupt einmal eine nennenswerte Auslandserfahrung jenseits des Einsatzes als Soldat besaß. Diese internationale Perspektive, diese andere Sicht auf Deutschland, und seine Rolle wurden maßgeblich durch seine Sicht als Exilant beeinflusst. Brandt baute sich im Exil ein neues Leben auf und kam als norwegischer Militärangehöriger in seine Heimat zurück. Er war der erste und bisher einzige Kanzler, dessen Ehefrau keine gebürtige Deutsche war.

Auch über die Ostpolitik sollte man ausführlicher schreiben. Wichtig ist aber schon, dass es auch diese Außenperspektive Brandts war, die es ermöglichte, einen neuen Weg in der Außenpolitik zu gehen und Kompromisse zu machen, zu denen weder die Union noch die frühere SPD bereit gewesen wären.

Zusammengefasst ist dieser Lebensabschnitt Brandts in Norwegen eine Besonderheit seiner Vita, die maßgeblich einen herausragenden Politiker formte, der eine neue Perspektive in die bundesdeutsche Politik brachte.

Titelfoto:  Porträt Willy Brandt, Bundeskanzler 1969–1974, im Jahr 1980. Bundesarchiv, B 145 Bild-F057884-0009 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0

Verlinkt in :

,