Das allgemeine Wahlrecht ist ein wichtiges Merkmal moderner Demokratien. Für die Bundesrepublik Deutschland ist in Artikel 38 des Grundgesetzes festgehalten, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestags in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. 

Doch was bedeutet eigentlich »Allgemein«? Nach der bislang gültigen Rechtsauffassung gibt es jedenfalls einen Unterschied gegenüber »Alle«. Nicht alle Menschen, die in Deutschland leben, sind bei Wahlen auf der Bundesebene wahlberechtigt.

Das Aushandeln des Verhältnisses von »Allgemein« zu »Alle« ist Teil des demokratischen Prozesses. Historisch betrachtet ist die gegenwärtige Zahl der Wahlberechtigten sehr hoch. Trotzdem bleibt eine Lücke zwischen »Allgemein« und »Alle«. Diese betrifft etwa ein Viertle der in Deutschland lebenden Menschen.

Der geschichtliche Trend: Immer mehr Menschen dürfen in Deutschland wählen

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es weltweit viele Regelungen, die Menschen bei Wahlen ausschlossen oder benachteiligten. Mit dem Merkmal des Geschlechts wurde Frauen die Teilnahme an Wahlen verwehrt. Zudem sorgten Kriterien wie Besitz oder Steuerleistung (Zensuswahlrecht) dafür, große Bevölkerungsgruppen von Wahlen auszuschließen. Verbreitet war auch die unterschiedliche Gewichtung von Wählerstimmen (Klassenwahlrecht, zum Beispiel bei den Wahlen zum preußischen Landtag bis 1918).

Insgesamt wurden Restriktionen im deutschen Wahlrecht weitgehend abgeschafft. Für das Deutsche Reich markierte die Etablierung der Weimarer Republik den Durchbruch: erst die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 machte das Wahlrecht »Allgemein«. Nunmehr konnten sich 58,5 Prozent der Bevölkerung an den Reichstagswahlen beteiligen, statt 21,5 Prozent (1912). 

Für die Nachkriegszeit gilt: Bis zu drei Viertel der in Deutschland lebenden Menschen besitzen das Recht, bei Wahlen auf der Bundesebene abzustimmen. Das Kriterium »Allgemein« galt in der Zeit der deutschen Teilung auch für die DDR, die erste freie Wahl fand aber erst nach der Friedlichen Revolution am 18. März 1990 statt. 

Aus historischer Perspektive kann gesagt werden: Immer mehr Menschen dürfen in Deutschland wählen. Viele Ausschlusskriterien wurden von engagierten Demokrat*innen beseitigt. 

Wer ist nicht im Besitz des Wahlrechts?

Viele, aber längst nicht alle in Deutschland lebenden Menschen, dürfen wählen. Denn wahlberechtigt ist nur, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. 

Diese Einschränkungen führten zum Beispiel bei den Bundestagswahlen 2017 dazu, dass ca. 61,7 Millionen Wähler*innen ihre Stimme abgeben durften (74,5 Prozent). Im Folgenden wird mit Zahlen zum Bevölkerungsstand Ende 2019 gearbeitet. Demnach sind 73,0  Prozent der in Deutschland lebenden Menschen wahlberechtigt. Die Diskrepanz zu »Alle« beträgt demnach rund 27 Prozent.

Bevölkerung Deutschland: Altersjahre, Nationalität. Fortschreibung des Bevölkerungsstands zum 31.12.2019, Quelle: Statistisches Bundesamt, Tabelle 12411-0006.

Kinder und Jugendliche sind nicht wahlberechtigt

Die größte Gruppe, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht wahlberechtigt ist, sind Kinder und Jugendliche:  insgesamt 13.677.902 Menschen, 16,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Wählen, so die gesetzliche Regelung, ist ein Mindestalter erforderlich.  

Die Altersgrenze für die Teilnahme bei Wahlen ist allerdings kein naturgegebener Wert, vielmehr Ergebnis politischer Entscheidungen. Im Deutschen Kaiserreich waren nur über 25jährige, in der Weimarer Republik und frühen Bundesrepublik nur über 21jährige wahlberechtigt. Seit den Bundestagswahlen 1972 darf ab 18 Jahren gewählt werden. In der DDR wurde 1974 ebenfalls das Wahlalter abgesenkt.

Weltweit liegt das Wahlalter meistens bei 18 oder 20 Jahren. Es gibt aber einige Länder in Lateinamerika, in denen Jugendliche schon ab 16 Jahren an nationalen Wahlen teilnehmen dürfen. In Deutschland leben immerhin 1.529.820 Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren. Die Mehrzahl von ihnen besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit.

  • Eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre würde die Anzahl der Wahlberechtigten um 1.376.035 steigern. Der Anteil der Wahlberechtigten auf der Bundesebene würde damit von 73,0 Prozent auf 74,7 Prozent erhöht.

Für die Veränderung des Wahlalters wäre eine Grundgesetzänderung von Artikel 38 erforderlich. Falls dieser Weg beschritten werden sollte, wäre es zweckmäßig, damit eine Diskussion über das Alter der Volljährigkeit zu verbinden, damit Wahlrecht, Geschäfts- und Deliktfähigkeit in einem zeitlichen Zusammenhang stehen.

Ohne deutsche Staatsangehörigkeit besteht kein Wahlrecht

Die zweitgrößte Gruppe derer, die nicht das Wahlrecht besitzen, sind Menschen in Deutschland ohne deutsche Staatsangehörigkeit, insgesamt 10.398.022 Personen, die unterschiedlich lang in Deutschland leben. 8.735.843 von ihnen sind volljährig, das heißt sie erfüllen das für die Teilnahme an Wahlen erforderliche Mindestalter. Die Koppelung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit sorgt aber dafür, dass sie nicht wahlberechtigt sind. Dies betrifft immerhin 10,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Im historischen Rückblick ist die Frage, wer zu den Staatsangehörigen und wer zur Wohnbevölkerung gehört, von eher geringer Bedeutung. Denn die Anzahl von Nicht-Staatsbürger*innen, die sich dauerhaft in Deutschland aufhielt, war viel geringer und lag zum Beispiel 1925 nur bei 1,5 Prozent.

Der Zuzug von Menschen, die durch Arbeitsmigration nach Deutschland kamen, sorgte in den sechziger Jahren dafür, dass sich der Anteil der »Ausländer*innen« an der Gesamtbevölkerung auf 4,5 Prozent erhöhte. 1996 besaßen 9,1 Prozent der in Deutschland Lebenden nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, 2019 waren es 12,5 Prozent. 

„In-Group“ und „Out-Group“ im Wahlrecht?

Das Bundesverfassungsgericht entschied 1990, dass das »Staatsvolk« ausdrücklich über das Kriterium der Staatsangehörigkeit definiert ist. Ein generelles »Ausländerwahlrecht« ist mit diesem Stand der Rechtsprechung unvereinbar. Initiativen zur Erweiterung des Wahlrechts bedürfen nach dem aktuellen Stand der Rechtsprechung einer Änderung des Grundgesetzes.

Weltweit ist die Position, rechtliche Unterschiede zwischen Menschen zu machen, die die Staatsangehörigkeit des eigenen Landes besitzen und solchen, die eine andere haben, der Regelfall: die »In-Group« mit Staatsangehörigkeit besitzt das Wahlrecht. Für die »Out-Group« »Ausländer*innen« gibt es dagegen unabhängig von der Dauer, in der sich die betreffen Personen schon im Land aufhalten, kein Wahlrecht. Voraussetzung für das Wahlrecht ist die Staatsangehörigkeit, die wiederum teilweise an die Dauer des ständigen Aufenthalts gebunden ist. 

Nur wenige Staaten machen das anders. Weltweit binden vier Länder das Wahlrecht an eine bestimmte Residenzdauer: in Uruguay sind es 15 Jahre, in Malawi sieben, in Chile fünf. Die weitestgehende Regelung hat Neuseeland: Seit 1975 dürfen dort Ausländer*innen nach zwei Jahren Aufenthalt an den Wahlen nationaler Ebene teilnehmen.

Wahlrecht in der Bundesrepublik

Für die Bundesrepublik Deutschland ist zum jetzigen Zeitpunkt die Staatsangehörigkeit weiterhin der Dreh- und Angelpunkt für das Wahlrecht. Die Anzahl der Menschen, die die Einbürgerungskriterien erfüllen, ist statistisch schwer zu erfassen. Um überhaupt einen Anhaltspunkt zu haben, bedient sich das Statistische Bundesamt einer Hilfskonstruktion.

Die vereinfachende Annahme ist, dass Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die seit mehr als zehn Jahren in Deutschland leben, bestimmt die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen. Hierbei handelt es sich um eine ganz erhebliche Anzahl: laut dem »Ausländerzentralregister« sind das 4.984.795 Menschen. Damit sind wahrscheinlich mehr als 44 Prozent der Menschen, die ohne die deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben, einbürgerungsberechtigt.

Doch die Einbürgerungszahlen der letzten Jahre sind nicht besonders hoch. In der amtlichen Statistik gibt es die seltsame Bezeichnung »ausgeschöpftes Einbürgerungspotential«. Dieses betrug 2,5 Prozent bis Ende 2019. 97,5 Prozent der Menschen, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, wurden also nicht eingebürgert bzw. haben sich nicht einbürgern lassen. Eine Erhöhung der Einbürgerungszahlen würde aber dazu führen, dass sich die Zahl der Wahlberechtigten der der Wohnbevölkerung weiter annähert.

  • Wahrscheinlich erfüllen 44 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer*innen die Einbürgerungskriterien und sind volljährig. Würden sie alle eingebürgert, würde sich die Anzahl der Wahlberechtigten um fast 5 Millionen Menschen steigern. Der Anteil der Wahlberechtigten auf der Bundesebene würde damit von 73,0 Prozent auf bis zu 79,0 Prozent erhöht.

EU-Bürger haben Mitwirkungsmöglichkeiten

Jenseits der durch die Staatsangehörigkeit gesetzten Grenzen beim Wahlrecht auf Bundesebene gibt es festgeschriebene Mitwirkungsmöglichkeiten für Staatsangehörige aus EU-Staaten. Die weitgehende Angleichung der Rechtsverhältnisse von deutschen Staatsangehörigen und EU-Bürger*innen mag dazu führen, dass keine Notwendigkeit zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft gesehen wird, denn für diese Gruppe sind die Einbürgerungsquoten sehr gering. Der EU-Austritt Großbritanniens bestätigt dies: nunmehr beantragte eine größere Anzahl von Menschen aus dem Vereinigten Königreich, die dauerhaft in Deutschland leben, die Einbürgerung. 

EU-Angehörige haben seit 1992 die Möglichkeit, an den Kommunalwahlen teilzunehmen – nicht aber bei Landtags- oder Bundestagswahlen. Damit ist formale politische Partizipation für eine nicht unerhebliche Gruppe von Ausländer*innen in Deutschland möglich: auf der unmittelbaren Ebene ihres Wohnumfelds. 

4.180.970 in Deutschland lebende Erwachsene haben Pässe von EU-Staaten. Dies bedeutet, dass der Anteil der Wahlberechtigten auf der kommunalen Eben um fünf Prozent höher ist als bei Wahlen auf der Bundesebene. 

Diskrepanz des Wahlrechts

Deutlich wird damit auch, dass eine Diskrepanz zwischen der Herkunft aus EU-Staaten und anderen Ländern (oft als „Drittstaaten“ bezeichnet) besteht. Die einen besitzen das Wahlrecht auf der kommunalen Ebene und für das EU-Parlament, die anderen haben nur sehr eng eingegrenzte Mitwirkungsmöglichkeiten im politischen System, wie zum Beispiel in Parteien oder durch die Berufung in ein kommunales Gremium als sachkundige Einwohner*innen einer Gemeinde. Für »Drittstaatenangehörige« führt bislang kein Weg außerhalb der Einbürgerung zu einem Wahlrecht.

Fazit?

Diese Erkenntnisse zeigen deutlich, dass im Verlauf der Geschichte zwar immer mehr Personen wählen durften. Das „allgemeine Wahlrecht“ ist jedoch keine Selbstverständlichkeit: Einige Gruppen bleiben bis heute exkludiert.

Fraglich ist, wie diese Ausschlüsse sich auf das Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft auswirken und wie historisch-politische Bildner*innen sie in ihrer Arbeit berücksichtigen können. Lesen Sie hierzu unseren Artikel: „Wer darf wählen – und was bedeutet das für unsere Gesellschaft?“ am nächsten Dienstag hier auf dem Blog.

Dieser Beitrag des Historikers Dr. Michael Parak erschien 2021 in der Publikation "Migrationsgesellschaft how? Eine Anleitung der Zivilgesellschaft für mehr Repräsentanz und Teilhabe", einer gemeinsamen Veröffentlichung des "Kompetenznetzwerks Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft". 

Über den Autor

Michael Parak

Michael Parak ist Historiker und Geschäftsführer von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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