Krieg, Klimawandel, Rechtsruck und soziale Reibungen – in Krisenzeiten ist politische Bildung so wichtig wie nie. Aber wie erreichen wir möglichst viele Menschen in unserer diversen Gesellschaft? Wie schaffen wir es, mit zuvor falsch verstandenen oder vergessenen Zielgruppen zusammenzuarbeiten und zusammen zu lernen? Und wo müssen politisch Bildende ihre eigene Perspektive anpassen?
Genau mit diesen Fragen beschäftigen sich die Bildenden vom Verein La Red in ihrer jüngsten Publikation: „Über Diversität, politische Bildung und die Frage, wie mehr Menschen mit politischer Bildung erreicht werden können – Erste Ergebnisse aus einer migrantischen Perspektive“.

La Red e.V. – eine kurze Vorstellung

Zunächst die Grundlagen: Wer oder was ist La Red?
La Red e. V. ist ein Berliner Verein, der es sich zum Ziel gemacht hat, Migrant*innen bei ihrer sozialen und beruflichen Integration zu fördern. Dazu bieten sie eine Vielzahl diverser Bildungsangebote an, von Schulungen für kleine und mittelständische Unternehmen zu Stärkung der Demokratiekompetenz (Democracy Works) über Fachveranstaltungen zu Social Media (NexSM) bis hin zu Hilfe bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen.
Die Publikation „Über Diversität, politische Bildung und die Frage, wie mehr Menschen mit politischer Bildung erreicht werden können“ entstand als Teil eines weiteren Projekts: „Migrantische politische Bildung – Diversität in Bildungsformaten für eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft – MipoBi“.


Damit haben es sich die Autorin Claudia Guzmán de Rojas Alquisalet und Beteiligte nach ihren Aussagen zum Ziel gesetzt, einen neuen Ansatz für inklusive u. diversitätssensible politische Bildung zu präsentieren. Einen Ansatz, der hoffentlich einen Diskurs über die Lehren und Fehler der letzten Jahrzehnte politischer Bildung anregen wird. (S. 113)

Kurz, aber oho!

Bereits bei einem Blick ins Inhaltsverzeichnis fällt auf: Die Publikation glänzt durch eine wohldurchdachte Struktur. Sie wirft Fragen auf, führt gegebenenfalls an Streitfragen heran und gibt kurze, knackige historische Einordnungen. Sie bringt Leser*innen auf den gleichen Wissensstand und erklärt transparent, wie sie auf ihre eigenen Definitionen und Positionen kommt. Auf diese Weise machen die Herausgeber*innen es den Leser*innen so einfach wie möglich, ihnen zu folgen.
Und das braucht es auch! Sprachlicher Stil, inhaltlicher Tiefgang und das Niveau, auf dem Themen wie der Unterschied zwischen sinnvollen und bevormundenden Trennlinien vorgestellt werden, fordern Leser*innen, die vielleicht nicht allzu vertraut sind mit den theoretischen Hintergründen von politischer Bildung.

WE WANT YOU! (To participate in our workshops)

Inhaltlich ist der Löwenanteil der Publikation dem Thema der Adressatenorientierung gewidmet, also der Frage: Wie schaffen wir es, unsere Bildungsangebote an potenzielle Teilnehmer*in anzupassen? Wer nimmt überhaupt an Bildungsangeboten teil? Warum wird jemand zu*r Teilnehmer*in? Und vor allem: Warum nicht?
Die Herausgeber*innen wissen, dass das vielleicht größte Problem moderner politischer Bildung ein scheinbarer Mangel an Interesse ist. So geben sie an, dass im Schnitt 40% der Angebote für politische Bildung wegfallen, weil sich zu wenig freiwillige Teilnehmer*innen finden (S. 39).
Um das zu ändern, müssen wir in der Adressatenorientierung ansetzen. Wenn wir in der Vergangenheit bestimmte Gruppen ansprechen wollten, wie haben wir diese Gruppen dann definiert? Häufig anhand von Defiziten. Welche Gruppe ist besonders sozial schwach? Welche weist besondere Bildungslücken auf? Was einer weiß gelesenen Person, womöglich aus einer privilegierten sozialen Gruppe, erst einmal wie ein logischer Ansatz erscheint, zeigt unter der Lupe einer diversitätssensiblen und inklusiven politischen Bildung ein großes Problem. Durch diese Zuteilung werden (von außen) Vorurteile und Denkmuster reproduziert, die zur Benachteiligung und Stigmatisierung gesellschaftlicher Gruppen beitragen.
An Stellen wie dieser wird klar, wo die diversitätssensible, inklusive Perspektive der Herausgeber*innen tiefer blickt. Und nicht nur hier:
Politische Bildung ist ja nicht damit getan, dass man eine Gruppe von Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten an einen Tisch setzt und einen halben Tag lang über Inklusion spricht. Und zwar nicht nur, weil das ein weites Feld ist!
Es spielt eben auch eine Rolle, welches Ziel Inklusion hat: Wollen wir Menschen empowern, sie also in ihrer Nicht-Normalheit bestärken? Wollen wir mit ihnen dekonstruieren, was „normal“ eigentlich bedeutet? Oder wollen wir ihnen zu ihrer rechtmäßigen Teilhabe an Normalität verhelfen? Und schon steht man vor dem Trilemma der Inklusion. Denn mehr als zwei dieser Dinge gleichzeitig zu vereinen, ist praktisch unmöglich.
Mit welchem Ansatz wollen politisch Bildende also in ihre Workshops, ihre Schulungen oder Vorträge starten? Und wie passt man sich an, wenn die Teilnehmer*innen ihnen in diesem Ansatz widersprechen?
Dank ihrer Erfahrungen mit unterschiedlichen Formaten politischer Bildung können die Herausgeber*innen die Leser*innen einmal den ganzen Weg von dem Willen, ein Projekt zur starten, bis zur Arbeit mit den Teilnehmer*innen begleiten.

Ein persönliches Fazit

Beim Lesen dieses Büchleins wollte ich an einigen Stellen ausrufen: Klar, ergibt doch Sinn! Warum habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht?
Und genau deswegen ist der Diskurs, den diese Publikation anstößt, so wichtig: Sie zeigt auf, worüber viele politisch Bildende aus ihrer Perspektive womöglich noch nie nachgedacht haben. Und: Sie zeigt, wie man diese Perspektive ergänzen und erweitern kann.
Als junger Mensch, der seinen Weg ins Engagement im Bereich der politischen Bildung so langsam findet, fühle ich mich einerseits eingeschüchtert, andererseits bereichert.
Das Niveau, auf welchem diese Publikation arbeitet, ist hoch, passend zu den Ansprüchen, die – zu Recht – an politisch Bildende gestellt werden. Einige Seiten musste ich auch zweimal lesen, bis ich sie verstanden hatte. Im Allgemeinen ist der Text recht anspruchsvoll, gerade für jemanden, der mit der Materie noch nicht vertraut ist.
Trotzdem ermutigen die leser*innenfreundliche Struktur und kleine Hilfestellungen, beispielsweise in Form kurzer historischer Einordnungen. Ganz ehrlich: Ich bin nicht vertraut mit damals neuen Konzepten der Bildungsdiskussionen der 50er Jahre. Und ich wusste vor der Lektüre dieser Publikation auch kaum etwas über die vielen schlauen Gedanken, die Menschen sich zu den Hintergründen von Adressatenorientierung gemacht haben. Dass man das von uns Leser*innen auch nicht zwingend erwartet, sondern stattdessen auf eine gemeinsame Wanderung geht, lädt dazu ein, zu lernen. Es lädt dazu ein, die Brille einer diversitätssensiblen, inklusiven politischen Bildung aufzusetzen und einen langen, konzentrierten Blick darauf zu werfen, worüber einige von uns sich vielleicht noch keine Gedanken gemacht haben.
Obwohl, oder gerade weil diese Publikation so anspruchsvoll ist, hat sich die Lektüre auf jeden Fall gelohnt. Das neuerlangte Wissen und das Wissen um meine Wissenslücken werde ich an andere Engagierte im Bereich der politischen Bildung weitertragen. Ich kann nur empfehlen, dieses Büchlein einmal selbst zur Hand zu nehmen und einzutauchen in einen neuen Diskurs über politische Bildung.

Die Publikation kann kostenfrei per Mail an la-red@la-red.eu bestellt werden. 

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Über den Autor

Amelie B.

ist Mitglied des Rates der Stiftung "Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung" und engagiert sich dort ehrenamtlich.

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