In der Serie 89/90 erzählen wir Geschichten aus dem migrantischen Blickwinkel auf die Ereignisse des Mauerfalls und der Wiedervereinigung vor 30 Jahren.
Zum dreißigjährigen Jubiläum des Mauerfalls am 9. November 1989 passierte im letzten Jahr vieles. Das Angebot an Literatur, Fernsehsendungen und Veranstaltungen aller Art war reich. Doch man spürt förmlich, wie die wachsende Distanz zu diesem historischen Ereignis die lebendige Erinnerung im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft Jahr für Jahr weiter verblassen lässt. Deshalb stehen wir mehr denn je vor der Aufgabe, dem „Erinnerungsort 1989“ Farbe und Menschlichkeit zu verleihen. Eine stete Wiederholung der großen offiziellen politischen Ereignisse reicht nicht mehr.
Umdenken in der Geschichtsvermittlung
Viele Akteure aus der Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung haben in den letzten Jahren wegweisende Arbeit geleistet. Denn sie haben vermehrt konkrete menschliche Lebenswelten in Ost und West vor und um 1989 in den Fokus gerückt haben. An dieser Stelle möchte ich einen Beitrag dazu leisten. Über einen persönlichen Bezug nehme ich einen bisher weniger beachteten Teil des Bildes in den Blick.
Der Mauerfall aus deutschtürkischer Perspektive
Meine Schwiegereltern, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, waren bei den Geschehnissen um den 9. November 1989 hautnah dabei. Sie wissen noch heute Geschichten zu erzählen, die ganz neue Perspektiven auf die Ereignisse vor 30 Jahren eröffnen.
Ansässig in unmittelbarer Nähe des Schlesischen Tors in Kreuzberg, konnten sie quasi vom Balkon aus auf den Grenzübergang Oberbaumbrücke blicken. Zu der damaligen Zeit war diese Gegend noch lange nicht jenes angesagte, hippe Kreuzberg, das man heute kennt. Damals gab es die Touristenströme ebenso wenig wie die vielen Cafés, die heute die Straßen säumen. Auch von der Gentrifizierung war noch nichts zu merken. In den dürftig sanierten Altbauwohnungen, in denen viele sogenannte „Gastarbeiter“ wohnten, versammelte sich der ausgegrenzte Teil der Berliner Gesellschaft. Zum einen nicht sehr vermögend, zum anderen als ewige „Ausländer“ deklassiert, wurden die größtenteils türkischstämmigen Menschen hier mehr geduldet denn als Mitbürger akzeptiert.
„Neuankömmlinge“ werden begrüßt
Als sich am 9. November 1989 die Berliner Mauer öffnete und unzählige Menschen aus der DDR in den Westsektor strömten, verkehrten sich auf einmal die Verhältnisse. Nun waren die Kreuzberger „Türken“ nicht mehr am untersten Rand der Gesellschaft. Jetzt waren sie die Etablierten, diejenigen, die sich auskannten, Wohnungen und festes Einkommen hatten, häufig auch kleine Läden oder Restaurants besaßen. Meine Schwiegereltern erzählen gerne, wie sie damals gemeinsam mit vielen anderen türkischstämmigen Kreuzbergern an die „Neuankömmlinge“ Essen verteilten. Tatsächlich auch die mittlerweile zum Klischee gewordenen Bananen! Immer wieder habe ich auch von türkischstämmigen Restaurantbetreibern gehört, die an diesen Tagen kostenlos Essen an die „Neuen“ ausgegeben haben sollen.
Ein Beet für den Ostler
Ein neu aus Ostberlin herübergekommener Mann hatte damals meine Schwiegereltern dabei um Hilfe gebeten, sich eine neue Existenz aufzubauen. Er suchte unter anderem nach einer Möglichkeit, in der Nähe vom Schlesischen Tor ein kleines Beet für den privaten Anbau von Obst und Gemüse anzulegen. Als Ortsfremder wusste er natürlich nicht, an wen er sich wenden sollte. Meine Schwiegereltern vermittelten ihm daraufhin ein kleines Gartenstück. Und noch heute bestellt jener Mann, den sie liebevoll auf Türkisch den „Ostler“ nennen, seine Parzelle.
Die Zivilgesellschaft springt ein
Am Abend des 9. November und an den darauffolgenden Tagen herrschte auf den Westberliner Straßen vor allem eins: Chaos. Die Ereignisse hatten sich überstürzt und die Politik war schlichtweg nicht in der Lage, auf die Schnelle die benötigte Logistik bereitzustellen. So fiel dann die Aufgabe in weiten Teilen an die Zivilgesellschaft. Und an diesen Tagen zeigte sich: Nicht zuletzt jene an den Rand der Gesellschaft gedrängten „Ausländer“ waren eben diese Zivilgesellschaft!
Blick auf eine Berliner Lebenswelt
Fotografien aus jener Zeit vermitteln einen lebendigen Eindruck von der damaligen Lage. Auf dem Titelbild zu diesem Beitrag sieht man beispielsweise eine Schlange von DDR-Bürgern, die entlang der Oppelner Straße auf ihr Begrüßungsgeld warten. Im Vordergrund läuft eine vermutlich türkischstämmige Frau entlang – Berliner Lebenswelt, schon vor 30 Jahren!
Wenn wir heute an die Entstehung eines neuen gesamtdeutschen Selbstverständnisses nach 1989 erinnern und viel von Zivilgesellschaft reden, sollten wir auch daran denken, dass das Versprechen des Aufbruchs, das mit 1989 verbunden ist, alle Mitglieder dieser Gesellschaft umfasst.