Evangelische Erinnerungskultur diversitätsbewusst gestalten, mit dieser Idee ging das Martin-Niemöller-Haus in Berlin an den Start. Die Mitarbeiter:innen des Hauses suchten sich Kooperationspartner und entwickelten gemeinsam das Projekt Aus Deiner Sicht!

Lernen an kirchlichen Erinnerungsorten

Evangelische (ev.) Christen können auf eine über 500-jährige Geschichte zurückblicken, die hauptsächlich in Deutschland stattfand. Sie bilden eine Gemeinschaft des Erinnerns. In Berlin und Brandenburg gibt es mehrere Orte, die an diese Geschichte erinnern. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Rolle der ev. Kirchen während der beiden deutschen Diktaturen. 2009 wurde der Beirat „Lernen an kirchlichen Erinnerungsorten 1933-1945. 1989“ gegründet. Zu ihm gehören Einrichtungen wie das Bonhoeffer-Haus, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die Gedenkstätte Berliner Mauer oder die Garnisonkirche in Potsdam.

Auch das Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem ist Beiratsmitglied. Die Ausstellung im Martin-Niemöller-Haus erinnert an den durch den Theologen Martin Niemöller christlich motivierten Widerstand gegen das NS-Regime. An diese Beispiele der Zivilcourage zu erinnern, ist wichtig. Darüber besteht kein Zweifel.

Blick in das Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem Foto: © Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem e.V.

Die ev. Erinnerungskultur befindet sich gegenwärtig im Wandel. Zum einen werden Zeitzeug:innen immer weniger. Die lebendige Erinnerung stirbt aus; die Distanz zur Vergangenheit wächst. Denn an diesen Orten gibt es kaum oder keine Bezüge zur persönlichen oder zur Familiengeschichte. In der Berliner postmigrantischen Gesellschaft betrifft diese Geschichte auch selten die der Eltern oder Großeltern. Die „deutsch-protestantische“ Erinnerungskultur ist heute faktisch eine Subkultur, zu welcher nur wenige Zugang haben.

Aus Deiner Sicht! Evangelische Erinnerungskultur diversitätsbwusst gestalten

Ev. Erinnerungsorte sind bestrebt, sich kontinuierlich neu zu erfinden, um relevant und bedeutend zu bleiben. Und sie tun dies gerne. Vielfalt wird in ev. Erinnerungsorten sehr geschätzt und sogar angestrebt. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass diese Orte für die postmigrantische Gesellschaft oft fremd und unzugänglich sind, weil kaum Verbindungspunkte existieren. Diese Überlegungen haben das Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem e.V. dazu motiviert, ein Modellprojekt zu initiieren, das die Perspektive der Vielfaltsgesellschaft in die ev. Erinnerungsorte einbezieht. Ein Projekt, das an die lange Tradition der Friedens- und Erinnerungsarbeit des Hauses anknüpft.

Der Projektname Aus Deiner Sicht! Evangelische Erinnerungskultur diversitätsbewusst gestalten ist zugleich Name und Programm. Engagierte Ehrenamtliche, Vereinsmitglieder, neue Mitarbeiter:innen ­– alle zusammen in Kooperation mit der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz der Ev. Hochschule Berlin und dem Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf u.a. – bilden die Grundlage der Projektarbeit. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert das Projekt im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“.

Das Modellprojekt Aus Deiner Sicht!

Das Modellprojekt Aus Deiner Sicht! zielt darauf ab, vorwiegend ehrenamtlich getragene ev. Erinnerungsorte diversitätsbewusst weiterzuentwickeln.

Zum Schwerpunkt des Projektes gehört die Förderung des Dialogs zwischen jungen Menschen, die Ausgrenzung und Diskriminierungen erfahren (Peers) und Jugendlichen aus Schulklassen und Konfirmand:innengruppen. Als historischer Ort wären eigentlich Berichte von Überlebenden der NS-Diktatur gefragt, das ist aber mit Voranschreiten der Zeit kaum noch möglich. Man muss aber — bedauerlicherweise — nicht zwingend in die Vergangenheit blicken, um Opfer von Unterdrückung, Krieg oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu finden. Die Projektkoordination hat sich vorgenommen, jungen Menschen, die in der Gegenwart ähnliche Lebenserfahrungen haben, als Peers zu gewinnen und deren authentischen Perspektiven Raum und Sichtbarkeit zu geben.

Wir nennen dieses Sub-Projekt „An der Quelle“, verstanden als eine „eins-zu-eins Begegnung“. Im Rahmen des Projektes werden die Peers qualifiziert. Sie lernen, unter anderem, autobiographisch zu arbeiten, um so die eigene Lebensgeschichte verständlich für Außenstehende zu präsentieren.

Durch die Einbeziehung von Menschen unterschiedlicher Hintergründe erlebt das Martin-Niemöller-Haus derzeit eine Metamorphose: von einem ev. Erinnerungsort zu einem Ort der Erinnerungen.

Alle Informationen über das Projekt Aus deiner Sicht! finden Sie unter: https://www.niemoeller-haus-berlin.de/aus-deiner-sicht/ Führungen durch das Haus finden jeden Donnerstag zwischen 11-13 Uhr statt. Anmeldung unter: info@mnh-dahlem.de

Titelfoto: Das Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem. Foto:© Martin-Niemöller-Haus  Berlin-Dahlem e.V.

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Über den Autor

Alois Hund Carrasco

ist Koordinator des Projektes „Aus Deiner Sicht!“ am Martin-Niemöller-Haus in Berlin-Dahlem

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