Drei Generationen der jezidischen Familie Mohamad/Nabo aus dem Dorf Qastel Jendo bei Afrin im Norden Syriens leben inzwischen in Halle an der Saale. Wie kam es dazu?
Mamads Ankunft in Deutschland
Mamad kam als erster der jezidischen Familie mit 16 Jahren nach Deutschland. Das war 1996 – angekommen in München, wurde er zuerst nach Halberstadt in eine große, lagerartige Erstaufnahmeeinrichtung geschickt und von dort nach Halle an der Saale. Besondere Unterstützungen für unbegleitete Minderjährige gab es damals nicht. Er saß seine Zeit in der Erstaufnahme ab, erhielt schließlich Asyl und zog in eine Einraumwohnung in Halle/Saale. Mit 16 Jahren fand er sich plötzlich allein in einem fremden Land wieder. Mamad hat es im Gegensatz zu vielen anderen geschafft. BVJ; Hauptschule, Realschule, Abitur, Studium der Sozialpädagogik. Was nach einer „normalen“ Bildungskarriere klingt, war ein äußerst mühsamer Weg für jemanden, der keine einzige Stunde zusätzlichen Deutschunterricht erhielt, sondern im BVJ, dem sog. „Berufsvorbereitungsjahr“, einfach mit den anderen mitlaufen und sehen musste, wie er klarkam.
Heute arbeitet er als Geschäftsführer des LAMSA, des Landesnetzwerkes der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt.
Krieg – und was nun?
Der Krieg in Syrien kam und die Situation für Mamads Familie wurde schwieriger: Als jezidische Kurden sind sie eine zweifache Minderheit in Syrien: religiös und ethnisch. Dadurch sind sie besonders gefährdet, und zwar von allen Seiten. Wenn die Familie in Gefahr ist, kann man sein Leben nicht einfach fortführen wie bisher. Mamad dachte über Wege nach, seine Familie nach Deutschland zu holen und damit in Sicherheit zu bringen.
Die Familie kommt
Mit Unterstützung vieler Menschen holte er seine Eltern und seinen Bruder mit Frau und (inzwischen) drei Kindern auf dem Wege einer Bürgschaft (d.h. er übernahm einen großen Teil der Lebenshaltungskosten) nach Halle. Die anderen Geschwister flohen mit ihren Familien nach Dänemark und Holland. Weitere Familienmitglieder gingen in die USA und nach Großbritannien.
Als Mamads Eltern und sein Bruder mit Familie ankamen, änderte sich sein Leben ein weiteres Mal. Wie lange schon hatte er seine Muttersprache nicht mehr gesprochen! Wie lange keine kurdischen Gerichte mehr gegessen, kurdischen Witze gehört, jezidischen Feste gefeiert! Seit seiner Ankunft in Deutschland waren fast 20 Jahre ins Land gegangen. Die Menschen, die in Deutschland ankamen und die er am Flughafen Leipzig-Halle in Empfang nahm, waren 20 Jahre älter geworden. Und er selbst auch. Hinzu kommt, dass er als jezidischer Kurde in Sachsen-Anhalt keine Möglichkeiten hatte, Teil einer Community zu werden – er war lange Zeit der einzige. Nun ist er wieder Teil einer jezidischen Familie.
Warum hat eine jezidische Familie eigentlich einen muslimischen Namen?
Immer werden Mamad und die anderen als Muslime angesprochen. „Fasten Sie auch?“. „Vorsicht, an der Salami ist Schwein!!“ usw. Mamads Kinder werden in der Schulkantine gefragt, warum sie jetzt doch Schnitzel essen. Und woher sie denn eigentlich kämen. Mamads Schwester und Schwägerin werden gefragt, warum sie kein Kopftuch trügen und deren Kinder, ab wann sie denn verpflichtet seien, das Kopftuch zu tragen. Das macht ihnen manchmal Angst, denn die Erfahrungen der Jeziden mit Muslimen über die Jahrhunderte sind traumatisch. Durch einen Willkürakt der syrischen Behörden wurde die Familie ihres einstigen kurdischen Namens „Misto“ beraubt und kurzerhand in „Mohamad“ umbenannt.
Und heute?
Inzwischen lebt auch Mamads Schwester mit ihrem Mann und vier Kindern in Halle. Die Kinder sprechen hauptsächlich deutsch, auch untereinander. Das Leben in Deutschland ist für die Erwachsenen anders als zu Hause, für die Kinder verblasst dieses alte Leben in Syrien immer mehr; fühlt sich an wie ein Traum oder wie eine Erfahrung aus einer Welt, die nicht real ist.
Wer sind die Jeziden eigentlich?
Das Jezidentum ist eine sehr alte Religion (die Jeziden selbst glauben, es sei die älteste Religion der Welt), die vom Islam nicht als „Buchreligion“, also geschützte Religion, anerkannt wird: Für den IS sind sie daher „Ungläubige“ und dürfen getötet, versklavt, missbraucht werden. Heute leben Jeziden im Irak, in Syrien, in Armenien, der Türkei, in Georgien und in der Diaspora.
Die Jeziden glauben an einen Gott. Es gibt sieben Erzengel, diese folgen Gott. Ihr Oberhaupt ist Tausi Melek, der Engel Pfau, der von Gott als seinem Vertreter mit der Aufsicht über die Erde beauftragt wurde.