Vom 19. bis 20. Juni 2023 diskutierten im Lichthof der Universität Hamburg Vertreter*innen aus der historischen sowie politischen Bildung um das Verhältnis von Antisemitismuskritik und Postkolonialismus. In der öffentlichen Wahrnehmung ist zwischen beiden oft eine Konkurrenz auszumachen. Bei der Tagung „Gedenken an Nationalsozialismus und Kolonialismus“ sollte es jedoch auch darum gehen, wie die Ideen einer inklusiven Erinnerungskultur von Holocaust und Kolonialismus in der Praxis gelebt werden können.
Doch dazu später mehr. Zunächst einmal: Konkurrenz? Hier zwei Beispiele: die Debatte um den Historiker und Philosophen Achille Mbembe. Ihm wurden angesichts seiner Äußerungen zu unter anderem der „Logik des Konzentrationslagers“ Holocaustrelativierung vorgeworfen, woraufhin er selbst rassistisch angefeindet wurde. Oder der Antisemitismusskandal auf der documenta fifteen in Kassel 2022.
Weniger Singularitätsdebatten, mehr Kontinuitätsanalysen
Antisemitismuskritik und Postkolonialismus polarisieren – das wurde auch bei der Tagung deutlich. Immer wieder ging es bei den Diskussionen um die Frage nach Vergleichbarkeit und nach der Singularität des Holocaust. Die Analysen und Betrachtungen von Gemeinsamkeiten sowie Kontinuitäten sind wichtig und notwendig. Ob die Verbrechen der Nationalsozialisten nun aber beispiellos waren oder nicht, ist bei den Bemühungen um das Gedenken an Holocaust und Kolonialismus letztendlich nicht alles entscheidend. Und es ist noch dazu – das wurde auf der Tagung ebenfalls deutlich – eine sehr deutsche Debatte.
Der Versuch einer internationalen Perspektive
Am ersten Tagungstag ging es vor allem um die Einordnung der jeweiligen Erinnerungskultur sowie deren Verhältnis zueinander. Am zweiten Tag stand die internationale Perspektive von Gedenkstätten und Erinnerungskultur im Fokus. Die Beiträge von Patrick Siegele (OeAD, erinnern.at, Wien), Michal Frankl (Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften) und Ines Grau (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Universität Konstanz) beleuchteten die Entwicklungen in Österreich, Tschechien sowie Frankreich: Alle drei Länder sind bis heute von Kolonialismus (wenn auch in unterschiedlichen Formen und unterschiedlich stark) geprägt. Und bei allen dreien hat sich das Gedenken an den Holocaust mittlerweile in der Erinnerungskultur etabliert. Während beim Thema Kolonialismus – um im Tagungsvokabular zu bleiben – noch viele Kämpfe ausgefochten werden müssen.
Kämpfe um die Gegenwart
Apropos Kämpfe: Von Teresa Koloma Beck (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Creative Impact Research Center Europe (CIRCE), Berlin) kam der wohl eindrücklichste Vortrag der Tagung. Sie wies auf die Asymmetrie in der Erinnerungsdebatte in Deutschland hin, bei der sich oft Täter- und Opferperspektiven gegenüberstünden. Sie sprach von der Herausforderung, wie solche Gespräche geführt werden könnten, ohne die Asymmetrie der Gewaltverhältnisse zu reproduzieren. Und sie betonte, dass all diese Auseinandersetzungen über das Erinnern keine Kämpfe um die Vergangenheit seien, sondern Kämpfe um die Gegenwart. Deswegen sollte stets die Verteidigung der offenen Gesellschaft sowie die Schaffung einer Gesellschaft, in der die Würde aller Menschen gewahrt ist, im Fokus der Debatten und auch in der Praxis stehen.
Einblicke in die praktische Erinnerungsarbeit
Weitere Einblicke in die praktische Arbeit gewährten drei Exkursionen am Nachmittag des 19. Juni an verschiedene historische Orte des Kolonialismus sowie Nationalsozialismus in Hamburg und die Vertiefungsangebote am Vormittag des 20. Juni. Bei letzteren ging es zum Beispiel um radikal demokratische Ansätze der Erinnerungsarbeit, pädagogische Konzepte von Gedenkorten oder multiperspektivische Ansätze in der Erinnerung an die Shoah.
Seit 2011 beleuchten die Blickwinkel-Tagungen aktuelle Analysen, es wird über innovative Bildungsansätze diskutiert und diskurskritische Akzente gesetzt. Außerdem geht es bei der Blickwinkel-Reihe um den Austausch sowie die Vernetzung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis. Die Tagung „Gedenken an Nationalsozialismus und Kolonialismus“ war eine Veranstaltung der Bildungsstätte Anne Frank in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung, Stiftung EVZ, Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Zentrum für Antisemitismusforschung, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Else Frenkel-Brunswik Institut für Demokratieforschung in Sachsen, Universität Hamburg und dem Projektverbund Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe, Hamburg und die frühe Globalisierung.
Titelfoto: Lichthof der Universität Hamburg © Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.